Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit
www.baustein.dgb-bwt.de   DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.

C.3

Thema: Rassismus
HINTERGRUND

C.3 Thema: Rassismus; Hintergrund

Warum wir von Rassismus sprechen und was wir damit meinen

Ausländerfeindlichkeit“, „Xenophobie“ (Angst vor dem Fremden) oder „Rassismus“: immer geht es irgendwie um die Ausgrenzung und Abwertung von nicht-deutschen Menschen bzw. solchen, die dafür gehalten werden. Hinter jedem dieser Begriffe stehen jedoch andere Vorstellungen davon, worin überhaupt das Problem besteht und wie es zu erklären ist. Die unterschiedlichen Erklärungen führen zu ganz verschiedenen pädagogischen und politischen Lösungsansätzen: von Anti-Gewalt-Verhaltenstrainings über Aufklärung von Vorurteilen bis zu internationalen Begegnungsprogrammen, von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über radikale Gesellschaftskritik bis hin zu Antidiskriminierungsgesetzen.

„Fremdenhass“ und „Ausländerfeindlichkeit“?

Begriffe wie „Fremdenhass“, „Xenophobie“ oder „Ausländerfeindlichkeit“ deuten die Diskriminierung von Menschen anderer Nationalität oder Herkunft als ein individuelles Fehlverhalten Einzelner, die es dann entweder zu verstehen, zu therapieren oder zu bestrafen gilt. Häufig wird zusätzlich noch suggeriert, die angegriffenen „Anderen“ seien selber mit schuld: Weil sie „zu fremd“ oder „zu viele“ sind, gibt es Schwierigkeiten. Diese entpolitisierende Sichtweise geht oft einher mit der Beschränkung auf ein „Gewalt- und Jugendproblem“, welches dann – auch in den Gewerkschaften – an die Jugendbildungsarbeit delegiert wird.

Der Begriff „Ausländerfeindlichkeit“ geht am Problem vorbei: Auch Menschen mit deutschem Pass und Lebensmittelpunkt in der BRD sind mit Diskriminierung konfrontiert (z. B. Schwarze Deutsche oder SpätaussiedlerInnen), weiße FranzösInnen hingegen in der Regel nicht. „Fremdenangst“? Wieso sollte einer Deutschen einer der x-Millionen anderen Mehrheitsdeutschen „vertrauter“ sein als ihre türkische Nachbarin? Warum gilt ein Marokkaner, der seit Jahrzehnten hier lebt, immer noch als „Fremder“? Und: Warum soll „Fremdes“ automatisch als beängstigend erlebt werden und nicht beispielsweise Neugier und Offenheit auslösen?

Rassismus: mehr als ein Vorurteil

Warum befinden sich in einer Gymnasialklasse überdurchschnittlich viele Mehrheitsdeutsche? Wieso werden PädagogInnen mit migrantischem Hintergrund oft ungefragt auf den Bereich der interkulturellen Bildungsarbeit festgelegt? Weshalb stehen wir an Bankschaltern, auf Behörden oder an Universitätslehrstühlen meist weißen deutschen Männern und Frauen gegenüber? Wieso zählt beim Staatsbürgerschaftsrecht nicht einfach, wer in der BRD lebt, sondern wessen Vorfahren deutsch waren? Warum machen immer mehr (oft hochqualifizierte) osteuropäische Frauen in deutschen Haushalten als Au-Pairs oder Haushaltshilfen die Familienarbeit?

Solche Formen von Diskriminierung und Privilegierung, die ganz selbstverständlich, unspektaktulär und ohne persönliche Feindschaft oder Aggressionen funktionieren, lassen sich mit Begriffen wie „Ausländerfeindlichkeit“ nicht erklären. Meist werden sie nicht einmal als Diskriminierung wahrgenommen: die Ungleichheit erscheint normal. Wir nehmen genau diese „Normalität“ in den Blick. Um untersuchen zu können, wie die verschiedenen Praktiken des Ausschlusses von MigrantInnen1, die gesellschaftliche Aufwertung von „Deutsch“- und „Weiß“-Sein sowie die Vorstellungen in unseren Köpfen funktionieren und zusammenhängen, sprechen wir von Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis.

Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis

Niemand steht außerhalb oder ist unbeteiligt.
Wie wir uns als Individuen und Gruppen wahrnehmen, wer dabei definiert, was als „deutsch“ und „normal“ gilt, welche Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen wir zugestanden bekommen oder eben nicht – all dies hängt von unseren Positionen innerhalb einer rassistisch hierarchisierten Gesellschaft ab. Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis heißt, dass jeder Mensch sich innerhalb dieses Verhältnisses bewegt und diesem auch mit besten antirassistischen Absichten nicht entkommt. Solange beispielsweise MigrantInnen geringere Chancen auf gut bezahlte Jobs haben, steigen automatisch die Chancen für deutsche ArbeitnehmerInnen; weiße Deutsche erhalten in dieser Gesellschaft Privilegien, erst einmal unabhängig davon, ob sie sie wollen oder nicht.

Wenn wir Verhaltensweisen von Individuen, die nicht unbedingt rassistisch gemeint sind, und „normale“ gesellschaftliche Verhältnisse als rassistisch bezeichnen, dann geht es uns in der Bildungsarbeit nicht um Schuldzuweisungen und moralische Verurteilungen. Wir wollen untersuchen, wie unser Verhalten in rassistische Strukturen eingebunden ist, die oft ungewollt reproduziert werden, wie rassistische Verhältnisse funktionieren, welche unterschiedlichen Positionen wir darin jeweils einnehmen und welche Handlungsmöglichkeiten wir gegen Rassismus entwickeln können.

Rassismus hat verschiedene Gesichter.
Auf welche Art sich Menschen, die als „Ausländer“ identifiziert werden, in der BRD mit Rassismus konfrontiert sehen, hängt von spezifischen rassistischen Traditionen und dem Zusammenwirken mit anderen Herrschaftsverhältnissen wie z. B. Kapitalismus und Sexismus ab. Rassistische Diskriminierung sieht für die indische Computerexpertin anders aus als für den sudanesischen Asylbewerber, der türkische VW-Arbeiter macht andere Erfahrungen als die illegalisierte polnische Haushaltshilfe.

Ungleichbehandlung auf staatlich-rechtlicher Ebene, ökonomische Benachteiligung, soziale Ausgrenzung und direkte Angriffe wirken bei der Herstellung und Aufrechterhaltung rassistischer Verhältnisse, die die Angehörigen der deutschen Mehrheit privilegieren, zusammen. Ebenso wie sich die Formen rassistischer Angriffe und Diskriminierung unterscheiden, müssen es auch die Gegenstrategien tun: Gegen gewalttätige Angriffe, die offen rassistisch begründet werden, müssen andere Gegenmaßnahmen entwickelt werden, als beispielsweise gegen die Unterrepräsentation migrantischer Azubis im öffentlichen Dienst.

Wie sich rassistische Ausgrenzung verstärkt und „vererbt“

Die rechtliche Benachteiligung vieler MigrantInnen wirkt sich unter anderem bei der Arbeitssuche aus: Nicht-EU-AusländerInnen bspw. erhalten meist keine allgemeine Arbeitserlaubnis, und ohne die bekommen sie eine Stelle nur dann, wenn es keine MitbewerberInnen mit deutschem Pass, EU-Pass oder allgemeiner Arbeitserlaubnis gibt. Vielleicht will ein Arbeitgeber außerdem keine als solche erkennbaren MigrantInnen im Außendienst oder deutsche Schulabschlüsse sind Einstellungsvoraussetzung. Resultat ist: Überdurchschnittlich viele MigrantInnen landen in schlechter bezahlten, niedriger qualifizierten und weniger angesehenen Jobs oder in der Arbeitslosigkeit. Viele dieser oft prekären Arbeitsbereiche fallen nicht in die von den Gewerkschaften als zentral erachteten Organisationsbereiche; zudem sind MigrantInnen auch in der Gewerkschaftshierarchie unterrepräsentiert. Gleichzeitig haben Menschen ohne deutschen Pass kein Wahlrecht. Diese Marginialisierung und die fehlende gesellschaftliche Lobby machen es MigrantInnen wiederum schwerer, bessere Arbeitsbedingungen einzufordern und politische Unterstützung für eine rechtliche und soziale Besserstellung zu erhalten. Das Schulsystem seinerseits benachteiligt Kinder aus sozialen Unterschichten und berücksichtigt den Migrationshintergrund vieler Familien in keinster Weise, so dass auch die nächste Generation von MigrantInnen in schlechteren Positionen landet. Weil diese rassistischen Strukturen von der Mehrheitsgesellschaft als „normal“ ausgeblendet werden, wird den MigrantInnen und ihren Kindern selber die Verantwortung für ihre soziale Lage zugeschoben. In der Alltagswahrnehmung bestätigt diese ethnisierte Unterschichtung dann wiederum die Vorstellung, MigrantInnen seien weniger wert: Sie verrichten ja schließlich niedriger qualifizierte Arbeiten und werden schlechter bezahlt.

Soziale Verhältnisse sind immer umkämpft.
Überall, wo es Unterdrückung und Diskriminierung gibt, wehren sich Menschen dagegen, behaupten sich und ihre Interessen und entwickeln eigene (strategische) Identitäten (siehe beispielsweise ARBEITSPAPIERAls wenn wir voll die Hinterwäldler wären. C.3, Seite 210 oder ARBEITSPAPIERes geht ab — kanak attak. C.8, Seite 324 ; ARBEITSPAPIERDer Fordstreik. C.9, –CD ). Neue Formen von rassistischer Repression sind oftmals auch eine Reaktion auf kreative Lösungen rassistisch Diskriminierter für ihre z. B. ausländerrechtlichen Probleme. Die erleichterte Einbürgerung für hier geborene Kinder von MigrantInnen wäre nicht ohne die Lobbyarbeit von MigrantInnenverbänden zustande gekommen. Die Erschwerung des Familiennachzugs und die Einschränkung des Asylrechts 1993 waren schließlich auch eine Reaktion darauf, dass viele MigrantInnen nach dem Anwerbestopp 1973 diese beiden Wege zur Einreise nutzten. Dass wir von solchen widerständigen Praktiken und Kämpfen gegen Rassismus selten in der Schule erfahren und die Medien darüber meist nicht aus der Perspektive der Minderheit berichten, ist Teil rassistischer Dominanz und Ignoranz. Aber ohne die antirassistischen Kämpfe und widerständigen Praktiken ist Rassismus als sich veränderndes gesellschaftliches Verhältnis nicht zu verstehen.

Wie stark rassistische Zuschreibungen beispielsweise mit Geschlechterbildern verknüpft sind und sexualisiert werden, zeigt ein Blick auf die Werbung: Schwarze Frauen versprechen „dunkle Geheimnisse“, weiße Frauen und blonde Kinder stehen fürs Familienglück, schwarze Männerkörper werden vorzugsweise für Sportartikel inszeniert, weiße Oberschichtmänner versprechen seriöse Anlageberatung usw.

Dazu:

Rassistische Bilder und rassistische gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht statisch.
Es gibt nicht den Rassismus, der schon immer existierte oder immer perfider wird; Kolonialismus und Gastarbeiteranwerbung sind nicht dasselbe. Die Kräfte werden ständig neu austariert und neue Formen erprobt.

Rassistische Verhältnisse legen dem Individuum ein rassistisches Verhalten nah.
Wieso können immer wieder neu rassistische Verhältnisse und Verhaltensweisen entstehen? Wieso gibt es in der Mehrheitsgesellschaft so wenig Interesse daran, rassistische Ungleichheit kritisch wahrzunehmen und zu verändern?

Die Privilegierung von Deutschen gegenüber Nicht-Deutschen ist rechtlich abgesichert und sozial anerkannt (auch die Gewerkschaften fordern „Qualifizierung von deutschen Arbeitslosen statt Einwanderung“). Wenn MigrantInnen am Bankschalter nicht gefragt sind, erhöht dies die Chancen deutscher BewerberInnen; wenn Schwarze als weniger intelligent gelten, können sich Weiße qua Hautfarbe überlegen fühlen. Weil die meisten Menschen Mangel und Machtlosigkeit erleben, scheint es legitim, die eigenen relativen Privilegien zu sichern, ohne zu fragen, wo andere diskriminiert werden. Rassistische Begründungen suggerieren, dass es okay ist, wenn andere z. B. schlechter verdienen, obwohl sie genauso viel leisten. Wer selbst rassistisch argumentiert, erfährt nicht nur soziale Aufwertung und Teilhabe an materiellen Vorteilen, sondern auch ein Gefühl von Handlungsfähigkeit. Im Einverständnis mit vielen anderen kann man sich als handlungsfähig erleben, wenn man gegen MigrantInnen protestiert – auch wenn diese Handlungsfähigkeit in einem sehr engen Rahmen verbleibt. Die Einschränkung der eigenen Lebensmöglichkeiten, Ausbeutung, Konkurrenz- und Anpassungsdruck können damit kurzfristig kompensiert und weitergegeben werden, aber wirklich verändern tut sich nichts.

Rassismus von Minderheiten

Rassismus ist ein kompliziertes Netz von Hierarchisierungen, das es in verschiedenen Formen weltweit gibt. Auch jemand, der oder die in der BRD rassistisch diskriminiert wird, kann sich Anderen gegenüber rassistisch verhalten. Angehörige rassistisch diskriminierter Gruppen können auch gegenüber Mehrheitsdeutschen Vorurteile haben. Da diese aber nicht mit gesellschaftlicher Durchsetzungsmacht und Diskriminierung verbunden sind, sind sie nicht mit Rassismus gleichzusetzen.

Die ungleiche Ordnung der Welt verändern.
Auch wenn Angehörige der Mehrheitsgesellschaft die ungleiche Ordnung der Welt vorfinden und von Kindesbeinen an rassistische Feindbilder zu ihrer Erklärung geliefert bekommen, heißt das nicht, dass rassistisches Verhalten damit zu entschuldigen ist, weil ihnen / uns kein anderes Verhalten möglich wäre. Es gibt immer wieder Entscheidungsmöglichkeiten, rassistische Strukturen zumindest teilweise nicht mitzutragen und die Gesellschaft, die diese Strukturen immer wieder reproduziert, zu verändern. Der erste Schritt dafür ist eine Analyse, die die eigene Verwicklung in diese Strukturen nicht ausblendet. Nur, wenn wir die unterschiedlichen Positionen und Erfahrungen von Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und von rassistisch Diskriminierten offen thematisieren, ist es möglich, Rassismus zu verstehen, zu kritisieren, Verantwortung für unser Verhalten zu übernehmen und konkrete Ansatzpunkte für Veränderungen zu finden.

Die Lebensrealität, Kämpfe und Widerstände von rassistisch Diskriminierten wahrzunehmen und zu unterstützen, ist ein wichtiger Ausgangspunkt, um solidarische, bündnis-orientierte nicht-rassistische Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es geht darum, gleiche politische und soziale Rechte zu fordern, sich für die Berücksichtigung von Unterschieden einzusetzen und direkten rassistischen Angriffen entgegenzutreten. Bündnisfähigkeit zu entwickeln kann z. B. heißen, dass sich deutsche SozialhilfeempfängerInnen und Flüchtlinge zusammen für gleiche Interessen wie z. B. „Sozialhilfe statt Gutscheine“ oder „Keine Kürzung der Sozialleistungen“ einsetzen. Oder, dass muslimische und christliche ArbeitnehmerInnen für flexiblere Pausenzeiten kämpfen, die mit rauchen, beten oder anderen individuellen Bedürfnissen gefüllt werden können, Ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass die Ausgangspositionen unterschiedliche sind (Asylsuchende z. B. erhalten aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes noch weniger als das “Existenzminimum” Sozialhilfe) und sich die Interessen in anderen Punkten auch widersprechen können.

Geschichte ist aktuell!
Um genauer herauszufinden, wie Rassismus heute und hier funktioniert, welche Bilder und Stereotype aktuell wirksam sind und wer jeweils davon profitiert, daran partizipiert oder dadurch benachteiligt und bedroht ist, braucht man eine historische Herangehensweise, die die Geschichte rassistischer Verhältnisse und der antirassistischen Kämpfe einbezieht. Dadurch werden sowohl Kontinuitäten als auch die Wandelbarkeit rassistischer Verhältnisse und Verhaltensweisen und die Vielfältigkeit antirassistischer Strategien sichtbar.

Rassismus ist nicht von heute auf morgen entstanden: Bruchstückhafter Durchgang durch fünf Jahrhunderte Rassismus

Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten gibt es schon lange, sie bekommen in der Neuzeit aber eine neue Dimension. Mit der Eroberung Nord- und Südamerikas sowie der Vertreibung der spanischen Juden und Mauren während der Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts handelte es sich nicht mehr länger um lokale Pogrome, sondern um systematische Vertreibung, Ausbeutung und Beherrschung im großen Umfang. Gerechtfertigt wurde dies mit der christlichen Bekehrung der „Anders- oder Ungläubigen“.

Die Entstehung des modernen (pseudo-)wissenschaftlich begründeten Rassismus fällt in die Zeit der Aufklärung (17. bis 18. Jahrhundert). Neue philosophische Vorstellungen wurden mit modernen Naturwissenschaften verknüpft. Die Idee, Menschen seien in biologisch bestimmbare Gruppen – in sogenannte „Rassen“ – einzuteilen und zu hierarchisieren, löste die Vorstellung einer „göttlichen Ordnung“ ab. Behauptet wurde, die „Rasse“ eines Menschen sei an messbaren körperlichen Unterschieden ablesbar, unveränderbar und natürlich. „So sind Weiße und Neger nicht zwei verschiedene Abarten derselben, sondern vielmehr zwei verschiedene Rassen“ (Immanuel Kant 1775, zitiert nach Mosse 1990, S. 54). Fortan strukturierte das Denken in Rassekategorien die Wahrnehmung der eigenen Person sowie anderer Menschen.

Hintergrund war die Ablösung der Feudalherrschaft durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und die damit einhergehende Herausbildung von Nationalstaaten. Die Rasse-Ideologie bot eine Rechtfertigung dafür, dass es trotz der von der Aufklärung geforderten Gleichheit weiterhin faktische Ungleichbehandlungen von Menschen gab. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ galten nicht für alle, sondern nur für Menschen mit Bürgerrechten. Inwieweit Weißen Frauen, Schwarzen Menschen und / oder Jüdinnen und Juden diese zugestanden werden sollten, war umstritten. Die rassistisch und / oder sexistisch Ausgeschlossenen forderten gleiche Rechte in Bezug auf politische Beteiligung, Zugang zu Bildung und Berufen, was ihnen bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder verweigert wurde.

(Zu deutscher Nationalstaatsbildung und Staatsangehörigkeitsrecht, siehe KAPITEL C.7, NATIONALISMUS .)

„Früher schon hatte der Europäer Schwierigkeiten gemacht. Als er begann, uns dazu zu bringen, für ihn Baumwolle anzubauen, Straßen zu bauen und so weiter, da sagten die Leute: ‘Dieser ist jetzt ein allgewaltiger Herrscher geworden, wir müssen ihn vernichten’“(Mzee Ndundule Mangaya, in: Bald u. a. 1978: 145 f.). 1904 griffen die Hereros in der Kolonie „Deutsch-Südwest“ (heutiges Namibia) deutsche Farmen und vereinzelt auch Militärstützpunkte an, nachdem der 1885 geschlossene Schutzvertrag durch den Eisenbahnbau verletzt worden war. General von Trotha befahl die Erschießung sämtlicher Hereros innerhalb der deutschen Kolonie. Der folgende dreijährige Vernichtungskrieg der Deutschen Kolonialtruppen gegen die Hereros forderte unzählige Todesopfer: Nur 15 000 bis 20 000 der etwa 80 000 Hereros überlebten.

Ein oft ausgeklammerter Aspekt der deutschen Geschichte ist die deutsche Kolonialpolitik. Mit der Kongo-Konferenz 1884/85 trat Deutschland offiziell in die Kolonialpolitik ein. Rassistische Begründungen der kolonialen Eroberungszüge stellten die Unterwerfung anderer Länder als legitimes Mittel zur eigenen Bereicherung dar. Sklaverei oder die Beschäftigung von ArbeiterInnen zu Hungerlöhnen galten als effektive und legitime Methoden der Ausbeutung. Gegen diese Unterwerfungsstrategien gab es massiven Widerstand in verschiedensten Formen.

Der Widerstand wurde in vielen Fällen mit dem Leben bezahlt. Gleichzeitig nutzten ihn die KolonisatorInnen, um vorhandene stereotype Bilder neu zu unterfüttern. Man sprach von „faulen“ und gefährlichen „Wilden“, denen gegenüber man einen „Auftrag zur Zivilisierung“ habe. Die Betonung der Faulheit der Unterworfenen war – wenn nicht frei erfunden – der Versuch, widerständige Formen der Arbeitsverweigerung als solche unsichtbar zu machen.

Gerade für deutsche Frauen boten die Kolonien eine Möglichkeit, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern. Indem ihnen den BewohnerInnen der Kolonien gegenüber die Rolle der Herrscherin zukam, konnten sie sich gegenüber den „Unzivilisierten“ als höherwertig fühlen und unmittelbare Machtvorteile erlangen. So konnten sie als Frau einen höheren gesellschaftlichen Status erlangen, als ihnen das in Deutschland möglich gewesen wäre.

„Die kolonialisierten Frauen waren aber auch ‘wilde’ Frauen, das heißt, sie waren nicht durch die patriarchalisch-bürgerliche Zucht gezähmt, entsprachen daher nicht dem Ideal der domestizierten deutschen Frau, die ihre Unterdrückung verinnerlicht hatte und zur Hausfrau, Gattin und Mutter geschrumpft war. Diese kolonialisierten Frauen, die mit ihrem Gebärstreik den Kolonialherren die Verfügung über ihre weibliche Produktivkraft verweigerten, müssen für die deutschen Kolonialistinnen, deren Status von ihrer Kinderzahl abhing, eine große Herausforderung gewesen sein.“ (Mamozai 1990, S. 80).

Im Nationalsozialismus wurden koloniale Interessen gezielt gestärkt. Trotz des Verlusts deutscher Kolonien in der Folge des Ersten Weltkriegs florierten deutsche Kolonialvereine, und die NSDAP forderte in ihrem Parteiprogramm die Rückgabe der Kolonien. Eine noch größere Rolle spielte aber das Interesse, Deutschland massiv nach Osten auszudehnen. Ziel war es, die eroberten Gebiete zu „entvölkern“ und von „arischen“ Deutschen neu besiedeln zu lassen. Unter dem Schlagwort „Volk ohne Raum“ verbanden sich hier ökonomische Interessen mit „rassehygienischen“ Vorstellungen zu einer brutalen bevölkerungspolitischen Offensive. „Ich habe meinen Todestruppen Befehl gegeben, unbarmherzig alle Männer, Frauen und Kinder auszurotten, die der polnisch sprechenden Rasse angehören. Denn nur auf diese Weise können wir den Lebensraum erobern, den wir benötigen“, so Adolf Hitler im August 1939. (zitiert nach Rommelspacher 1998, S. 44).

Die Vorstellung von „Herren- und Untermenschen“, von der „arischen Rasse“ und „minderwertigen Rassen“ verknüpfte kolonialen Rassismus mit Anti-Slawismus, stärkte den Anti-Ziganismus und entwickelte eine besonders mörderische Form des Antisemitismus. Christlicher Antijudaismus war im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung zunehmend in einen rassistischen Antisemitismus umgeschlagen: Er bezog sich nicht mehr auf die „falsche Religion“, sondern auf die „falsche Abstammung“. In den Nürnberger Rassegesetzen wurde Jüdisch-Sein rassebiologisch – über Abstammungsregeln – festgelegt. Während des Nationalsozialismus bedeutete eine Definition als „jüdisch“ für die Betroffenen meistens den Tod: 6 Millionen Menschen wurden als Jüdinnen oder Juden verfolgt und ermordet.

Rassismus und moderne Formen von Antisemitismus sind nicht dasselbe.

Ihr findet deshalb im Baustein ein eigenes Kapitel über Antisemitismus. Eine Definition der Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus könnt ihr im Hintergrundtext HINTERGRUNDDie Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen .... C.2, Seite 165 nachlesen.

Im Nationalsozialismus wurden Rassetheorien zur Rassepolitik, die ihre Umsetzung in allen Bereichen des alltäglichen Lebens fand. Die nationalsozialistische Politik wurde nicht „von oben“ verordnet, sondern fand sich im alltäglichen Verhalten der deutschen Bevölkerung in Form von stillschweigender Akzeptanz, eigener Bereicherung, Denunziation und eigenmächtiger Verfolgung wieder. Frauen spielten dabei ebenso eine Rolle wie Männer – von der Schnäppchenjägerin bei der Versteigerung jüdischen Eigentums, über das „BDM-Mädel im Osteinsatz“ bis hin zur Wehrmachtshelferin und KZ-Aufseherin.

Weitgehend unbeachtet bleibt oft auch der Widerstand, den Juden und Jüdinnen den Nazis entgegengesetzt haben. Neben individuellem Widerstand gründeten sich bis in die Zeit der Massendeportationen hinein Gruppen, die die Vernichtungspolitik der Nazis auf unterschiedlichen Wegen angriffen und um ihr Überleben kämpften.

Nach 1945 wurde mit dem Ausdruck „Stunde Null“ für die Zeit der Befreiung vom Nationalsozialismus ein Neuanfang suggeriert, der neben der historischen Verantwortung auch das Fortwirken von Rassismus und Antisemitismus negierte. International geriet das nationalsozialistische Modell der Rassebiologie in Verruf. In Deutschland wurde der Begriff „Rasse“ gemieden und so getan, als sei damit nun auch der Rassismus verschwunden. Die Gegenwart und Kämpfe der sogenannten „Gastarbeiter“ (seit 1955) und ihrer UnterstützerInnen machten – neben der Angst vor dem „Ansehen im Ausland“ – die Ignoranz gegenüber dem Problem „Rassismus“ schließlich unmöglich. Seit den sechziger Jahren nahm auch die internationale Fluchtbewegung in die BRD zu. Bis zur faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 standen Flüchtlinge im Fokus rassistischer Diskurse und Angriffe. Gemeinsam mit Organisationen wie Pro Asyl, Kirchen oder autonomen Initiativen entwickelten sie verschiedene Netzwerke und Kampagnen gegen ihren gesellschaftlichen Ausschluss, gegen Entrechtung, rassistische Angriffe und Abschiebungen. Viele MigrantInnen, Flüchtlinge oder Schwarze Deutsche widersetzen sich offensiv ihrer Ausgrenzung und Diskriminierung und fordern selbstverständlich die gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie eine Auseinandersetzung mit Rassismus ein. In diesen Kämpfen verändern sich sowohl die Bilder von MigrantInnen, Flüchtlingen und dem, was als „deutsch“ gilt, als auch die rassistischen Machtverhältnisse.

Kulturalismus – „Ethnie“: An die Stelle des tabuisierten Begriffs „Rasse“ trat nach 1945 häufig der Begriff „Kultur“. „Kultur“ wird dabei oft als ebenso festlegend für individuelle Eigenschaften betrachtet wie ehemals „Rasse“ und Unterschiede zwischen „Kulturen“ werden hierarchisch gewertet. Aus diesem Diskurs stammt z. B. die Vorstellung, MigrantInnen stünden zwischen zwei Kulturen und würden so zu defizitären Menschen. Ebenfalls mit einem statischen Kulturverständnis argumentieren „ethnopluralistische“ Konzeptionen, die den kulturell oder ethnisch definierten Menschengruppen zwar eine prinzipielle Gleichwertigkeit zuschreiben, aber davon ausgehen, dass „Kulturen“ getrennt voneinander erhalten bleiben müssen und ein Aufeinandertreffen oder gar „Durchmischen“ Probleme schaffe. Beschönigend wird von einem „Recht auf Differenz“ oder dem „Respekt vor Andersartigkeit“ gesprochen, daneben aber wird - unmissverständlich – vor „Überfremdung“ gewarnt und „Rückführung“ in die „Heimatländer“ gefordert.

An den jüngsten Debatten über die „Nützlichkeit“ von MigrantInnen zeigt sich, dass nicht allein die Rede von „Fremdheit“ und kulturellen Differenzen die Geschichte und Gegenwart von Rassismus prägen, sondern in entscheidendem Maße auch ökonomische Kalküle. Rassistische Verhältnisse und Bilder sind immer in Bewegung und verschränken sich mit anderen Diskursen wie Neoliberalismus, Standortnationalismus, Leistungsdenken. Um rassistische Strukturen als solche zu erkennen und dagegen aktiv werden zu können, nehmen wir die Kontinuitäten, die Hartnäckigkeit von alten Bildern und die andauernde Ausgrenzung ebenso in den Blick wie die aktuellen Wandlungsprozesse und Verschiebungen rassistischer Argumentationen und materieller Diskriminierung.

1 Damit der Text einfacher lesbar ist, bezeichnen wir in diesem Text auch Menschen mit Migrationshintergrund, also Kinder und Enkelkinder von MigrantInnen, die selber in der BRD geboren und nicht migriert sind, als „MigrantInnen“. Zu den im Baustein verwandten (Selbst-)Bezeichnungen siehe PLANUNGSHILFE"Das sagt man doch so!". C.4, Seite 235 .

Literatur:
Bald, Detlef u. a. (1978): Die Liebe zum Imperium. Deutschlands dunkle Vergangenheit in Afrika – zu Legende und Wirklichkeit von Tanzanias deutscher Kolonialvergangenheit (Ein Lesebuch zum Film), Bremen.
Jäckel, Eberhard / Longerich, Peter / Schoeps, Julius H. (Hg.) (1998): Enzyklopädie des Holocaust, München.
Mamozai, Martha (1990): Komplizinnen, Reinbek bei Hamburg.
Mosse, George (1990): Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M..
Rommelspacher, Birgit (1998): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin.

Kurzformel für Rassismus: Rassismus = Ethnisierte Gruppenbildung + Abwertung + Durchsetzungsmacht

Ethnisierte Gruppenkonstruktion

Es gibt keine unterschiedlichen menschlichen „Rassen“. Aber die Geschichte dieser Vorstellung wirkt fort. Anhand von bestehenden und / oder eingebildeten Unterschieden werden Gruppen als „ethnisch“, „kulturell“ oder gar „biologisch / genetisch“ „anders“ wahrgenommen. Im Gegensatz dazu entsteht ein „Wir“, das in Abgrenzung von „den Anderen“ als „normal“ und selbstverständlich gilt.

Für diese ethnisierten Gruppenkonstruktionen werden nationale Zugehörigkeit, Herkunft oder „Kultur“, Religion oder Hautfarbe herangezogen. Unterschiede innerhalb einer Gruppe sowie Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen werden übersehen. (Haben eine schwarze und eine weiße Frau ähnliche Augen oder Gesten, so fällt dies bestenfalls auf den zweiten Blick auf – während die Hautfarbe sofort registriert wird).

Zuschreibungen, Vorurteile, Wertungen

Die „den Anderen“ zugeschriebenen Eigenschaften sind meistens negativ, können aber auch positiv sein – in jedem Fall treffen sie die gesamte Gruppe (Ausnahmen bestätigen nur die Regel). Das Verhalten einzelner Menschen wird mit ihrer „Rasse“, Herkunft, Religion, „ethnischen Zugehörigkeit“ oder „Kultur“ erklärt. Die Gruppenmerkmale werden zu unveränderlichen Eigenschaften, hinter denen der / die Einzelne nicht mehr wahrgenommen wird und die andere Erklärungsansätze für Verhalten und Verhältnisse überflüssig machen.

Gesellschaftliche Macht

Wenn eine gesellschaftliche Gruppe die soziale, ökonomische oder politische Macht hat, die oben genannten (Ab-)Wertungen gegenüber einer anderen Gruppe durchzusetzen und damit eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung zu erzeugen, sprechen wir von Rassismus. Rassistische Diskriminierung findet sowohl im Bereich der individuellen Nicht-Anerkennung und Benachteiligung statt als auch auf der Ebene des nationalstaatlich-rechtlichen Ausschlusses und der ökonomischen Ausbeutung.

Übersicht
A
Idee, Hintergrund, Konzeption
B.1
Jetzt geht's los!
B.2
Erfahrungen
B.3
Gesellschaft begreifen
B.4
Tu was!
B.5
Wie die Zeit verging
B.6
Themenungebundene Methoden
C.1
Von Vor- und anderen Urteilen
C.2
Antisemitismus entgegentreten
C.3
Rassismus als gesell. Verhältnis
C.4
Rassismus und Sprache
C.5
Sicherheit und Gewalt
C.6
Rechte Bilderwelten
C.7
Nation und Nationalismus
C.8
Migration
C.9
Weltarbeit und Wirtschaftswelt
C.10
Diskriminierung
D
Literatur, Medien, Adressen
E
Register, Inhalt
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