Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit
www.baustein.dgb-bwt.de   DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.

A

Einführung
KONZEPT

Einführung - Konzept

Plädoyer für eine Synthese antirassistischer und interkultureller Bildungsarbeit

Was passiert wenn sich ein deutscher und ein kamerunischer Kollege streiten? Es findet sich garantiert jemand, der den Grund kennt, ohne näher hinsehen zu müssen: Ein klassischer Kulturkonflikt.

Fast kein Unterschied zwischen Menschen wird so selbstverständlich als Konfliktursache angeführt, wie „Kulturunterschiede“. Wen interessiert schon, ob die Ursache eines Streites darin liegt, dass sich Reiche mit Armen, Experten mit Anfängern oder Choleriker mit Friedfertigen streiten? Viel wichtiger für unsere Interpretation sind oft eingeübte Alltagstheorien über „große Unterschiede“ und die sichere Alltagsweisheit, dass Kulturkontakt nun mal Konflikt heiße. Ähnlich wie beim Verweis auf das fast-natürliche „Du kannst mich einfach nicht verstehen“ zwischen den Geschlechtern steht auch hinter dem Schlagwort „interkultureller Konflikt“ oft der Wille zur Vereinfachung. Denn ein „natürlicher“ Konflikt kann und muss nicht gelöst werden. So können wir andere, vielleicht bedeutendere Konfliktursachen, auch solche, die mit Diskriminierung zu tun haben, ausblenden. Oder aber meinen, der Konflikt lasse sich einfach lösen, wenn beide Seiten ein paar Vorurteile abrüsteten, oder der Kameruner sich anpasst. Diskriminierende Strukturen müssen dabei nicht in Frage gestellt werden.

Interkulturelle und antirassistische Bildung im Widerstreit

Fragt man BildungsarbeiterInnen nach der Ursache eines solchen Konflikts, würden interkulturelle BildungsarbeiterInnen vermutlich zuerst nach den kulturellen Missverständnissen und Wahrnehmungsblockaden zwischen den Kollegen fragen. Antirassistische PraktikerInnen dagegen würden als erstes auf das Machtungleichgewicht zwischen dem deutschen und dem kamerunischen Kollegen hinweisen.

Interkulturelle und antirassistische Bildung wollen Konflikte wie den geschilderten bearbeiten, die daraus resultieren, dass kulturelle Zugehörigkeiten, rassistische Ungleichheit und soziale Veränderungen die Lebenswirklichkeit von Menschen prägen. Sie wollen der Internationalisierung der Lebenswelt Rechnung tragen, Minderheiten unterstützen, die Veränderungen verständlich machen, die mit Migration entstehen, rassistische Einstellungen bekämpfen und ein besseres Verständnis zwischen Menschen verschiedener Gruppen befördern. Aufgrund ihres unterschiedlichen Fokus werden die Ansätze oft als Gegensätze begriffen. Sieht man sich jedoch die Bildungspraxis an, stellt man fest, dass der Gegensatz meist kleiner ist als in der Theorie: Oft werden die Begriffe interkulturell und antirassistisch gleichbedeutend benutzt. Viele Methoden lassen sich nur schwer genau einem Ansatz zuordnen. Wir verstehen beide Ansätze als ergänzend. Nicht zuletzt, weil sich die Bausteingruppe aus Fans beider Ansätze zusammensetzt und wir im Verlauf der Arbeit viel voneinander gelernt haben.

Chancen und Grenzen interkultureller und antirassistischer Ansätze

Interkulturelle Bildung fragt nach der Lebenswirklichkeit der TeilnehmerInnen. Sie will für unterschiedliche Wahrnehmungen sensibilisieren, Konfliktfähigkeit stärken, zum Perspektivwechsel ermuntern und Empathie befördern. Zu ihren Schlüsselbegriffen gehören Selbst- und Fremdreflexion, Offenheit, Anerkennung (von Differenz), Wertschätzung, Versöhnung und Dialog.

VertreterInnen der antirassistischen Bildungsarbeit kritisieren diesen Ansatz als zu subjektorientiert, zu individualpsychologisch und zu wenig gesellschaftskritisch. Sie bezeichnen sogar einige Ansätze der interkulturellen Bildungsarbeit als kulturalistisch, dass heißt, kultur-rassistisch (siehe Kasten). Sie kritisieren, dass die interkulturelle Bildung herkunftskulturelle Prägungen zu ernst nehme und selbst kulturelle Stereotypen produziere. Der Faktor Kultur werde überbewertet und andere Konflikte damit überdeckt. Die interkulturelle Pädagogik sei mitverantwortlich für die „Ethnisierung sozialer Konflikte“, also die Verschleierung sozialer Konfliktlagen durch die Erklärung mit kulturellen Differenzen. Statt alle Unterschiede zwischen Menschen als Kulturunterschiede zu verstehen, müsse die interkulturelle Pädagogik wahrnehmen, dass auch Diskriminierung soziale – also nicht herkunftskulturelle – Gruppenzugehörigkeiten hervorbringe. Und schließlich entstehe so ein Teufelskreis: Soziale Benachteiligung aufgrund von Herkunft oder Kultur führe zu sozialer Deklassierung, die dann wiederum den Eindruck erweckt, sie sei Ergebnis einer minderwertigen Herkunftskultur. Genau diesen Zusammenhang müsse Bildungsarbeit aufklären. Antirassistische BildungsarbeiterInnen sehen die Hauptursache für Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft eher in wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen Strukturen und alltäglich gewordenen Ungleichheitspraktiken als in kulturellen Differenzen und mangelndem Verstehen zwischen den Kulturen. Respekt vor Differenz sei erst unter der Voraussetzung von Gleichheit möglich. Soziale Ungleichheiten sähen zwar unter bestimmten Umständen wie Kulturkonflikte aus, könnten aber als solche nicht verstanden und bearbeitet werden.

Antirassistische Bildung konzentriert sich dagegen auf die Beziehung zwischen individueller und struktureller Diskriminierung. Sie fragt, welche Machtgefälle es in einer Situation gibt und wem sie nutzen. Sie möchte über die Geschichte rassistischer Bilder und Praktiken aufklären und Handlungsmöglichkeiten gegen Rassismus und für eine tatsächliche Gleichstellung entwickeln. Zu ihren Schlüsselbegriffen gehören: Kritische Gesellschaftsanalyse, soziale Gerechtigkeit, politische und rechtliche Gleichstellung sowie Gesellschaftsveränderung und Opposition.

Interkulturell orientierte BildungsarbeiterInnen werfen dem antirassistischen Ansatz vor, er spreche Menschen kulturelle Prägungen ab und ignoriere, dass kulturelle Zugehörigkeit – egal ob real oder konstruiert – die Grundlage für Selbstbilder, Einschätzungen, Erfahrungen und Diskriminierungen ist. Ein solches Ausblenden von Unterschieden zwischen den Kulturen verhindere die Entwicklung praktischer gleichstellungspolitischer Aktivitäten, mit denen auch Differenz anerkannt würde. Ausgeblendet werde auch, dass alle strukturverändernden Ideen nutzlos seien, wenn die Menschen dazu nicht bereit seien, weil sie individuelle Vorurteile pflegten. Um diese zu bekämpfen, fehlen ihrer Ansicht nach dem antirassistischen Ansatz subjektorientierte Methoden.

… ohne Angst verschieden sein (Adorno)

Wir glauben, dass das Handeln gegen Rassismus weder ohne konfliktfähige und offene, sich gegenseitig in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennende Menschen auskommt, noch ohne eine kritische Gesellschaftsanalyse, die die Denk- und Verhaltensweisen von Menschen in Machtstrukturen analysiert und zu verändern sucht. Der Baustein enthält deshalb Methoden und Materialien aus dem Repertoire beider Ansätze. Dazu zählen beispielsweise subjektorientierte Aktivitäten, die Wahrnehmungsprozesse, Vorurteile und Feindbilder zum Thema machen. Ebenso beziehen wir uns positiv auf den interkulturellen Impuls, Menschen, ihre Lebenswirklichkeit und ihre Interpretationen zum Ausgangspunkt von Lernprozessen zu machen. Wir propagieren jedoch nicht eins der derzeit populären „Interkulturellen Kompetenztrainings”, bei dem Sozialtechniken für das Managen von Differenz vermittelt werden; Sozialtechniken, mit denen eine Gruppe die Fähigkeit erwirbt, unter Beibehaltung von ungleichen Machtverhältnissen im Kontakt mit Angehörigen einer anderen Gruppe ihre Ziele unverändert durchzusetzen. Mit unserem auf praktische Gleichstellung orientierten Ansatz geht es uns vielmehr darum, sowohl einzelne Menschen mit ihren Interpretationen zum Ausgangspunkt von Veränderung zu machen als auch etablierte Strukturen selbst zu verändern. Den Willen, Strukturen zu verändern, teilen wir mit der antirassistischen Pädagogik. Wir analysieren deshalb die Lebenswirklichkeit der TeilnehmerInnen und ihre Deutungen, Handlungen und Widersprüche nicht isoliert, sondern innerhalb ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Statt Menschen auf „ihre Kultur” zu reduzieren, sehen wir sie als Individuen, die in Auseinandersetzungen mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen eine eigene, wenn auch strukturell mitbestimmte Lebenspraxis entwickeln. In diesen gesellschaftlichen Entstehungsprozess individueller Lebenswirklichkeit gehen als ein Moment auch ethnisierende und ethnische Dimensionen ein. Darüber hinaus wollen wir herausfinden, was Kultur und Gruppenzugehörigkeiten für uns und andere bedeuten und wofür sie nützlich sein können. Zum Beispiel für Identität, Selbstvergewisserung, als Anspruchsberechtigung für den Zugang zu Rechten und Ressourcen und als Legitimation für die Abwertung anderer. Wir analysieren den individuellen situationsspezifischen Nutzen von Feindbildern, analysieren Feindbilder aber auch als gesellschaftliche Normalität und Ausdruck von Machtverhältnissen. Wie wollen keine Anti-Vorurteils-Moralisierung, die gesellschaftliche Probleme zu Problemen von vorurteilsvollen Einzelnen umzuformuliert. Wir möchten dazu beitragen, dass die TeilnehmerInnen unserer Seminare sich und andere als vielfältig gestrickte Menschen kennen lernen, sich als gleichwertig und interessant erleben, Unterschiedlichkeit, Widersprüche und auch Konflikte aushalten lernen und gemeinsame Schritte gegen Diskriminierungen entwickeln. Eine solche Bildungsarbeit muss paradox denken. Sie darf Menschen weder kulturalistisch auf ihre „Herkunftskultur” festlegen, noch darf sie die Lebenswirklichkeit und die verschiedensten sozialen Zugehörigkeiten der Einzelnen ignorieren. Und weil wir einen Menschen durch zahlreiche soziale Gruppenzugehörigkeiten geprägt sehen, könnte man unseren Ansatz vielleicht nicht nur als interkulturell, sondern vielmehr als inter-sozio-kulturell bezeichnen.

Meinungsfreiheit ist unchinesisch – Waffenbesitz ist ein universales Menschenrecht – Kulturrelativismus und Universalismus

Über die Frage, wie das Verhältnis zwischen der Akzeptanz kultureller Unterschiede und kultureller Werte und universalen Menschenrechten aussehen kann, gibt es einen großen Streit mit zwei Hauptargumentationslinien:

Der kulturrelativistische Ansatz sieht Kultur als sehr prägend für das Zusammenleben an. Er betont kulturelle Unterschiede gegenüber Gemeinsamkeiten. Unter Kulturrelativismus versteht man die Auffassung, dass Normen und Praktiken nur innerhalb einer bestimmten Kultur erklärt werden und auch nur in ihren Entstehungskulturen Gültigkeit beanspruchen können. Kulturrelativisten bezeichnen gesellschaftliche Normen und Praktiken deshalb als kulturbezogen = kulturrelativ.

Der universalistische Ansatz geht von unteilbaren, global für alle guten Normen und Prinzipien aus. Er betont Gemeinsamkeiten. Er tendiert dazu, allgemeingültige Standards zu definieren und Unterschiede auszublenden.

Gegen den Universalismus wird eingewendet, dass er nicht zur Kenntnis nehme, dass es ein Recht auf Unterschiede gibt. Er sei eine Form des Eurozentrismus und verallgemeinere westliche Werte, bzw. versuche, sie anderen aufzuzwingen. Mit der Behauptung, Verteidigungsfähigkeit sei für alle gut, könne man z.B. auch individuellen Waffenbesitz zum Menschenrecht erklären. Tatsächlich fordern Universalisten meist nichts anderes als die universelle Gültigkeit gerade ihrer eigenen Prinzipien. Das können die Menschenrechte sein oder die freie Marktwirtschaft, ganz gleich, ob dies die für den Menschen besten Prinzipien sind. Denn die Länder, die im Namen des Universalismus argumentieren, verantworten auch, dass nur 21 % der Weltbevölkerung 73 % der Exporte kontrollieren und 63 % der Energie verbrauchen, in einem globalen System, in dem jeder Fünfte in absoluter Armut lebt und in dem das „Recht”, jedes Risiko individuell zu bewältigen, bei den Einzelnen liegt. Akzeptiert man dagegen die kulturrelativistische Annahme, dass Prinzipien nur kulturgebunden bewertet werden können, so könnte man z.B. die Genitalverstümmelung von Frauen nur außerhalb bestimmter islamisch geprägter Länder als moralisch verwerflich beschreiben. Deshalb werfen Universalisten dem Kulturrelativismus vor, er immunisiere unter den Überschriften „Recht auf Differenz” oder „Achtung der kulturellen Identitäten” gegen berechtigte Kritik. Er mache es unmöglich, kulturelle Hintergründe auf den Prüfstand zu stellen und argumentiere stattdessen eigentlich mit Aussagen wie: „Meinungsfreiheit ist unchinesisch” oder „Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist unarabisch”. Er begünstige die Verletzung von Menschenrechten weltweit. Und er vernachlässige die Unterschiede innerhalb sogenannter Kulturen.

Die Redaktion des Bausteins plädiert für einen gemäßigt universalistischen Standpunkt, der bedeutet, das „Eigene” durch den Vergleich mit anderem kritisch zu beleuchten, Neues aufzunehmen und Altes zu verwerfen, vor allem aber auch die reale Umsetzung universalistischer Prinzipien auf den Prüfstand zu stellen. Wir sprechen uns aber unbedingt für die Gültigkeit bestimmter universeller Prinzipien wie Menschenrechte, Pluralismus, Gleichberechtigung und gleiche politische und soziale Partizipationsmöglichkeiten aus. Wie diese unverrückbaren Prinzipien ausgestaltet werden, muss in der Form eines Dialogs, in dem relative und universale Werte Geltung haben, fortwährend neu ausgehandelt werden.

Interkulturelle Gleichstellungspolitik – Interkulturelle Pädagogik in einem Land mit unzivilisierter Ausländerpolitik (Franz Hamburger)

Toleranzerziehung und Kommunikationsseminare versuchen Konflikte zu managen, vernachlässigen jedoch oft die Analyse von rechtlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheitsstrukturen und propagieren einen „falschen Betriebsfrieden”. Wir möchten, dass unsere Bildungsarbeit ein Handwerkszeug zur Veränderung der Realität ist. Wir wollen deshalb in unseren Seminaren ein Wissen darüber erarbeiten, wie soziale Dynamiken im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit, Geschlecht, Religion, Ethnizität, lokalen Gewohnheiten funktionieren und in welchen Situationen Unterschiede zum Tragen kommen. Wir wollen beitragen zu einem erweiterten Wissen über Gruppenbildungsprozesse und ihre konkreten historischen und sozialen Hintergründe, über Migrationsprozesse und ihre Auswirkungen. Und wir wollen nicht zuletzt Analyse- und Handlungskompetenzen für Gleichstellungsinitiativen im Alltag entwickeln. Uns interessieren Diskriminierungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, bei Bewerbung und Einstellung, Hierarchien in der Arbeitsorganisation und Diskriminierungen im betrieblichen Klima ( KAPITEL C.10, DISKRIMINIERUNG ). Wir weisen auf die massive Schieflage bei der Verteilung von Arbeit hin, auf Diskriminierungen in der schulischen Ausbildung und auf Handlungsmöglichkeiten, die sich z.B. mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz ergeben. Auch innergewerkschaftlich stellen wir die Frage nach struktureller Diskriminierung. Noch immer gilt hier für MigrantInnen die Regel „besser organisiert, schlechter repräsentiert”. Wir fragen also auch, was innerhalb gewerkschaftlicher Strukturen getan werden kann, um strukturelle Diskriminierungen aufzubrechen – nicht nur in der Bildungsarbeit.

Kulturalisierung bzw. Ethnisierung bedeutet, soziale Verhältnisse, Gruppen, individuelle Zugehörigkeit und soziale Bindungen mit Hilfe kultureller, also ethnischer, Kategorien zu beschreiben. Kulturalisierende Betrachtungsweisen nehmen Herkunftskultur als dominanten Unterschied zwischen Menschen wahr.

Individuelle Prägungen und andere Gruppenzugehörigkeiten werden demgegenüber ebenso ausgeblendet, wie die Bedeutung, die soziale und politische Ausgrenzung für die Gruppenbildung haben. Indem Menschen auf eine ethnisch „andere” Herkunft festgelegt werden, wird ihre Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft in Frage gestellt. Ein gutes Beispiel für eine kulturalisierende Pädagogik ist ein Seminar, in dem Ekin aufgefordert wird, „ihre türkische Eigenart darzustellen” ganz unabhängig davon, ob sie sich mit den dieser Eigenart zugerechneten Eigenschaften identifiziert. So wird Ekin pädagogisch zur „Anderen” gemacht und ein Unterschied zwischen ihr und anderen pädagogisch hergestellt. Es gibt zwei Formen des Kulturalismus: den Differentialismus, der die Abgeschlossenheit und Unvereinbarkeit von Kulturen annimmt und den Ethnozentrismus (historisch oft Eurozentrismus), der die eigene Kultur absolut setzt, während ihm das Verhalten anderer als minderwertig erscheint.

Als (Fremd-)Ethnisierung bezeichnet man Zuschreibungsprozesse, in denen „andere” ethnisch interpretiert werden. Als Selbstethnisierung bezeichnet man die Zuschreibung ethnischer Eigenschaften innerhalb einer Gruppe. Selbstethnisierungsprozesse sind nicht immer „selbstbestimmt”, sondern oft auch Reaktionen auf Ausschluss- und Diskriminierungserfahrungen. So beschreiben sich z.B. Jugendliche in der 3. Generation als „Türken” oder „Iraner”, weil ihnen als Ferdan und Ali kein Platz zugestanden wird. Auch für MigrantInnen hat eine kulturalistische Perspektive einen Nutzen. Mit ihr können Unsicherheiten klein gehalten und in Konflikten Loyalität zur Herkunftskultur eingefordert werden. Kulturalisierungen helfen, schlechte Zustände als richtig anzusehen, statt zu versuchen, sie zu verändern. Auch die ostdeutsche Selbstethnisierung im Jahr 1989 unter dem Motto „Wir sind ein Volk” war nicht allein Ausdruck gemeinsamer Kultur. Sie folgte auch zweckrationalen Motiven, die naturrechtlich als „wir sind Deutsche” verkleidet wurden. Auch viele Aus- und Übersiedler zieht nicht die kulturelle Gemeinsamkeit nach Deutschland. Sie setzen Selbstethnisierung als Strategie ein, um über die Zugehörigkeitsfeststellung Aufenthaltsrechtsansprüche geltend zu machen. Sogar die nationalen Töne von Deutschen sind oft strategische Selbstethnisierungen, um sich unter den Bedingungen von Konkurrenz einen Vorteil zu verschaffen. Selbstethnisierung dient oft der Legitimation von Dominanz, der Sicherung von Privilegien und zum Geltendmachen von Ansprüchen. Selbst- und Fremdethnisierung haben also einen Gebrauchswert als Kapital in sozialen Auseinandersetzungen. Wir untersuchen, wie Gruppenzugehörigkeit instrumentalisiert wird, welche Leistungen sie für die Selbstbehauptung erbringt und auch, wie sie ein Mittel des Widerstandes gegen die Einfügung in gesellschaftliche Strukturen sein kann. Wir verstehen Selbstethnisierung als einen Teil der Bewältigung von Lebensrealität und wollen die Gründe und Bedingungen analysieren, in denen das stattfindet.

Was ist Kultur?

Amerikanische Forscher haben in den 60er Jahren über 250 Bedeutungen von „Kultur” gesammelt. Die Uneindeutigkeit des Begriffs spricht Bände für seinen verschwommenen Gebrauch. Das lateinischen Verb „colere“ von dem sich viele heutige Bedeutungen des Wortes „Kultur“ ableiten, hat vier Grundbedeutungen:

  1. (be-)wohnen, ansässig sein (Kultur)
  2. pflegen, schmücken, ausbilden, wahren, veredeln (Kultur)
  3. bebauen, Ackerbau treiben (Kultur)
  4. verehren, anbeten, feiern. (Kult)

Wir vertreten einen weiten Kulturbegriff. Kulturen sind gemeinsame, keineswegs nur herkunftskulturelle Lebenswirklichkeiten von Menschen. Ausschlaggebend dafür können sein: eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame gesellschaftliche Lage oder geteilte persönliche Prioritäten. Jeder Mensch gehört nach unserem Verständnis zahlreichen Kulturen an, kann in sie neu eintreten oder sie aufgeben.

Kulturen werden erlernt und nicht angeboren

Ein in Deutschland geborenes Kind, das bei seinen argentinischen Verwandten in Argentinien aufwächst, erlernt wie ein in Argentinien geborenes Kind alles, was dort wichtig ist.

Kulturen entwickeln sich dynamisch und verändern sich laufend

In Deutschland waren in den 30er, 50er und 90er Jahren sehr unterschiedliche Gepflogenheiten in Mode, das gilt auch für die deutsche Sprache. Was vor 1000 Jahren gesprochen wurde, versteht heute niemand mehr.

Kulturen sind nicht homogen

Innerhalb von Deutschland gibt es sehr unterschiedliche lokale Traditionen: Beispielsweise bestehen eklatante kulturelle Unterschiede zwischen einem 70-jährigen Bauern im katholischen Bayern und einer 25-jährigen Fernsehmoderatorin im metropolitanen Berlin. Hat der bayrische Bauer nicht mehr Gemeinsamkeiten mit einem polnischen Kollegen als mit der Fernsehmoderatorin oder einem deutschen Professor?

Herkunftskultur legt einen Menschen nicht fest

Wer will schon gerne immer Bier trinken. Weder ist man mit 18 mit dem Leben fertig, noch verhält man sich in jedem Moment „typisch deutsch”, „typisch französisch”, oder „típico espanol”. Menschen werden durch ihre Herkunftskultur nicht festgelegt, sondern können sich weitgehend autonom von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft entwickeln. Sie sind Knotenpunkte vielfältiger Prägungen. Man ist ja nicht nur türkischer Herkunft, sondern immer auch Frau oder Mann, Abteilungsleiter oder Sekretärin und Fußballfan oder Kinoliebhaberin zugleich. Jeder Mensch ist eine bunte Mischung, denn Menschen eignen sich ihre kulturellen Orientierungen in einer Vielzahl sozialer Bezugssysteme an. Dimensionen von Dominanz, Unterordnung und Widerständigkeit sind in diesem Aneignungsprozess immer präsent. Die Herkunftskultur ist demnach nur eine der vielfältigen gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Prägungen eines Menschen. Herkunftskulturelle Prägungen sind darin weder immer dominant, noch statisch. Deshalb sprechen wir eher von den (sozio-) kulturellen Prägungen eines Menschen, als von seiner einen prägenden (Herkunfts-)Kultur. Uns interessieren vor allem die Einzelnen und nicht allein DIE Eigenschaften von Kollektiven, denen sie zugehören. „Einen Menschen, a priori nicht als einzelnen, als Person, sondern generell und vornehmlich als Deutschen, … Juden oder Fremden … zu behandeln, [ausgehend davon, er] verdiene nicht für sich selbst zu gelten, ist barbarisch.” (Max Horkheimer)

Jeder Mensch bewegt sich in unterschiedlichen kulturellen Regelsystemen!

Wir sind Handballspielerin, Hip-Hop-Fan, Autoschlosser, Berufsschülerin, Betriebsratsvorsitzender. Regeln, die an einem unserer Alltagsort, als „Kultur“ gelten, sind am anderen falsch. Schließlich kann man sich in der Betriebskultur nicht so verhalten, wie in der Disko.

Kultur hat einen Nutzen: Wer anderen Kultur zuweist, versteht sich selbst gern als Denker und Individualist. So gilt: Deutsche haben Meinungen, Expertentum und Intellekt, Ausländer haben Kultur.

Wenn ein Deutscher eine Bank überfällt, liegt das an ihm persönlich. Er ist sozusagen eine Ausnahme. Keine Zeitung fühlt sich bemüßigt, seine Nationalität in den Ereignisbericht aufzunehmen. Wenn ein Ausländer eine Straftat begeht, steht seine Nationalität garantiert dabei. Und es findet sich bestimmt einer, der sagt: „Das sieht ihnen ähnlich, den Russen.” Dabei ist das Verhältnis zum Thema Kultur oft gänzlich nutzenorientiert. Je nachdem, wie es dem Sprecher passt, ist das, was einer tut, entweder Ausdruck von individuellem Verhalten oder von Nationalkultur. Wird ein Ausländer Bundespolitiker, liegt das an ihm als Person und bestimmt nicht an der Respektwürdigkeit seiner Herkunftskultur.

Kultur hat immer mit Macht zu tun

Die Idee, dass Kulturen macht- und herrschaftsneutrale Wertesysteme darstellen, trügt. Kultur hat materielle Grundlagen, die von den globalen Machtverhältnissen nicht zu trennen sind. Kulturen enthalten Legitimationen von Macht und Herrschaft. Europa gilt als Afrika überlegen. Noch immer gelten Deutsche als fleißig und kulturvoll und Polen als Diebe. Wer von Kultur redet, sollte von der langen Geschichte kultureller Dominanz und Ungerechtigkeit nicht schweigen.

Kultur ist oft eine Falle

„Kultur“ gehört zu den belasteten Begriffen im europäischen Wortschatz. Anknüpfend an koloniale und nationalsozialistische Vorstellungen von der eigenen „kulturellen Überlegenheit“ ist der Begriff „Kultur“ heute oft ein Ersatz für den in Verruf gekommenen Begriff der „Rasse“. Noch heute werden allzu schnell aus Menschen homogene Kulturen, aus kulturellen Prägungen Natur und aus den individuellen Beweggründen von Menschen nur Kennzeichen „ihrer Kultur”. Die Rede von der Kultur ist eine Scheinsicherheit, die soziale, d. h. nicht-herkunftskulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausblendet. „Herkunft“ kann Menschen ähnlicher Lebensumstände ebenso zu einer Gruppe machen wie Geschlecht, Armut bzw. Reichtum oder die Erfahrung von Rassismus. Dennoch brauchen wir den Begriff Kultur, denn Fremdethnisierungen und das Gefühl einer (Gruppen-)Kultur anzugehören, sind die Grundlage für reale Erfahrungen und Diskriminierungen.

Warnung

Eine kulturalismuskritische Pädagogik ist unbequem. Viele Geldgeber wollen nicht mehr als ein bisschen Reden über Toleranz. Mit handfesten Veränderungsanforderungen möchten sie nicht konfrontiert werden. Und auch die TeilnehmerInnen und KollegInnen werden nicht immer begeistert sein, weil sie Selbst- und Fremdethnisierung für sich nützlich einsetzen.

Literaturtipp:
Scheve, Sigrun / Schwiers, Jürgen: Unterschiede wahrnehmen – Gemeinsamkeiten stärken. Arbeitshilfe für die gewerkschaftliche Arbeit zu den Themen Diskriminierung, Rassismus, Interkulturelle Gleichstellungspolitik. (Bezug über: Union Druckerei, Theodor-Heuss-Allee 90 – 98, 60486 Frankfurt a. M., Tel. 069 / 795 21 71)

Übersicht
A
Idee, Hintergrund, Konzeption
B.1
Jetzt geht's los!
B.2
Erfahrungen
B.3
Gesellschaft begreifen
B.4
Tu was!
B.5
Wie die Zeit verging
B.6
Themenungebundene Methoden
C.1
Von Vor- und anderen Urteilen
C.2
Antisemitismus entgegentreten
C.3
Rassismus als gesell. Verhältnis
C.4
Rassismus und Sprache
C.5
Sicherheit und Gewalt
C.6
Rechte Bilderwelten
C.7
Nation und Nationalismus
C.8
Migration
C.9
Weltarbeit und Wirtschaftswelt
C.10
Diskriminierung
D
Literatur, Medien, Adressen
E
Register, Inhalt
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