Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit
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C.2

Thema: Antisemitismus
HINTERGRUND

C.2 Thema: Antisemitismus; Hintergrund

Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen …

Antisemitische Bilder und ihre Geschichte

Wer glaubt, nach der nationalsozialistischen Verfolgung und dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden sei Antisemitismus endgültig diskreditiert, der unterschätzt die Geschichtsmächtigkeit, gegenwärtige Verbreitung und Dynamik antisemitischer Konstruktionen.

Eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sowie eine Untersuchung der Soziologen Bergmann und Erb von 1995 kamen zu dem Ergebnis, dass 15 % bis 20 % der Gesamtbevölkerung überzeugte Antisemiten sind. Das sind 12 Millionen Deutsche. Rechnerisch kommen damit auf einen in Deutschland lebenden Juden 300 AntisemitInnen. Aber was ist eigentlich Antisemitismus und woher kommt die derzeitige globale Zunahme antisemitischer Einstellungen und Angriffe?

Was ist überhaupt Antisemitismus?

Antisemitismus hat eine lange Geschichte und ist in viele Vorstellungen eingegangen, die auf den ersten Blick normal und alltäglich, ja sogar kritisch erscheinen. Gleichzeitig trifft das Benennen von Denkstrukturen, Verhaltensweisen, Argumentationsmustern oder Angriffen gegen jüdische Menschen und Einrichtungen als antisemitisch in Deutschland noch immer auf starke emotionale Abwehr, was das Sprechen darüber, was antisemitisch ist und was nicht, sehr erschwert.

Wieso sind antijüdische Feindbilder so hartnäckig? Wieso äußern sich Menschen antisemitisch, die noch nie einen Juden getroffen haben? Sieht man sich antisemitische Bilder und Mythen genau an, fällt auf, dass sie Spiegelungen einer antisemitischen Geschichte sind: Ein- und dieselben Bilder tauchen immer wieder von neuem auf. Moderne antisemitische Feindbilder bedienen sich bei alten antijüdischen Bildern und Stereotypen und verleihen ihnen neue Aktualität. Um den heutigen Antisemitismus zu verstehen, muss man deshalb die in der Gegenwart fortlebenden historischen Bilder, die Geschichte der Judenfeindschaft und ihre Überlieferungen eingehender betrachten.

Christlicher Antijudaismus: Juden als Gefährdung für Christen und ihren Glauben

Bereits seit dem ersten Jahrhundert nach Christus gab es eine Konkurrenz zwischen Juden und Christen. Das Christentum als abgespaltene jüdische Sekte rechtfertigte seine Existenz durch ein Selbstverständnis, dass sich als Gegensatz zum Judentum darstellte. An diese antijüdische Tradition christlichen Denkens knüpften schließlich die antijüdischen Bilder des Neuen Testaments der christlichen Bibel an. Zu den bekanntesten gehören der Vorwurf des Christusmords und die Behauptung, Juden seien aus dem Bund mit Gott ausgeschlossen. Juden werden an vielen Stellen als Heuchler, als falsche Fromme und als Feinde der Christen betrachtet. Diese negativen Bilder aus dem Neuen Testament sind auch aus dem heutigen Sprachgebrauch nicht verschwunden. Bis heute kennt jeder den Heuchler „Pharisäer“ und den Verräter „Judas“. In solchen Sprachbildern hat sich die Vorstellung der Illoyalität der Juden gehalten, die mit der Nationalstaatsbildung neue Aktualität bekam.

Im 13. Jahrhundert kam mit dem christlichen Ritus des Abendmahls der bis heute gepflegte Glaube auf, Brot und Wein würden zu „Leib und Blut Christi“. Man behauptete, die Juden wollten als „Feinde Christi“ die Hostie (Abendmahlsoblate) durchbohren, um damit den Leib Jesu zu verletzen. Es wurde verbreitet, Juden würden das Blut von Christen zu rituellen Zwecken verwenden und hierfür christliche Kinder entführen oder kaufen, um sie zu ermorden. Sie wurden beschuldigt, aus Hass gegen Christen Brunnen zu vergiften. Immer wieder wurde Juden die Schuld für allgemeine Bedrohungen und Katastrophen gegeben, beispielsweise für die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Antisemitische Hetze und Pogrome prägten das jüdische Leben in den Städten und auf dem Land. Viele jüdische Gemeinden wurden bereits zu dieser Zeit vollständig vernichtet. Aus zahlreichen Städten und Ländern wurden Juden ausgewiesen.

Mit der spanischen Inquisition – der von kirchlichen Institutionen und staatlichen Behörden betriebenen Verfolgung von Nicht-Christen und christlichen AbweichlerInnen – fand die christliche Judenfeindschaft 1492 ihren Höhepunkt. Juden wurden gezwungen zum Katholizismus überzutreten. Wenn sie sich weigerten, wurden sie verbrannt oder aus Spanien, in dem viele hundert Jahre lang Juden, Christen und Moslems zusammengelebt hatten, ausgewiesen. Aber auch der Übertritt zum Katholizismus bot nur wenig Sicherheit. Man verdächtigte die konvertierten Juden, nur zum Schein übergetreten zu sein. Zum ersten Mal kam das rassistische Argument auf, Juden hätten „anderes Blut“ als Christen. Man verlangte Abstammungsnachweise für „reines (christliches) Blut“. Bestimmte Berufe durften nur diejenigen ausüben, deren Vorfahren keine Juden waren.

Auch das Ende des Mittelalters brachte für die europäischen Juden und Jüdinnen keine Verbesserungen. Mit der zu diesem Zeitpunkt einsetzenden Gegenreformation kam die Erneuerung antijüdischer Gesetze. In katholischen Gebieten wurden die Juden in Ghettos verbannt. Sie wurden Opfer von Pogromen, die die vergangenen Massaker weit übertrafen. Bis ins späte 18. Jahrhundert, als endlich die Aufklärung und die Französische Revolution neue religiöse Freiheit mit sich brachten, kam es immer wieder zu religiös motivierten Formen der Judenverfolgung. Erst dann erhielten die Juden zuerst in Frankreich, dann in anderen westeuropäischen Ländern, schließlich auch in Deutschland die Bürgerrechte. Der Preis für die Emanzipation als StaatsbürgerIn war die Assimilation, also die Aufgabe des Jüdischen außerhalb der privaten vier Wände. Emanzipation und Assimilation ermöglichten politisch-rechtliche Verbesserungen, wirtschaftliche Erfolge und kulturelles Ansehen für eine größere Anzahl von Juden und Jüdinnen als bisher. Doch diese führten zu neuem Neid und neuen Feindseligkeiten auf Seiten der nicht-jüdischen Mehrheit.

Ökonomisch begründete Judenfeindschaft: Juden als ökonomische Konkurrenz

Ein kurzer Sprung zurück ins 13. Jahrhundert: Kirchliche Verfügungen verschlechterten den gesellschaftlichen und sozialen Stand der jüdischen Bevölkerung. Juden wurden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und gezwungen, sich durch ihre Kleidung zu kennzeichnen. Ihnen wurde die Zulassung zu den Zünften und damit zu zahlreichen Erwerbsmöglichkeiten versperrt. Dies zwang die Juden zu einer ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, denn das Verleihen von Geld war den Christen aus religiösen Gründen verboten. Als Finanziers von Feudalherren und Städten sowie als Kaufleute kamen im 16. bis 19. Jahrhundert einige jüdische Familien zu Wohlstand. Sofort wurden die wenigen wohlsituierteren Juden zu „reichen Wucherern“ erklärt und zur Zielscheibe antijüdischer Mobilisierungen. Dazu motivierten nicht nur politische und religiöse, sondern oft höchst private materielle Interessen: Mit den Juden konnte man auch die eigenen Schulden loswerden. Dass tatsächlich nur einige wenige Juden gut gestellte Kaufleute und Finanziers waren, während viele andere oft ein sehr mühseliges Auskommen als kleine Handwerker, Händler oder Gelehrte hatten, hat für die judenfeindliche Propaganda über mächtige reiche Juden nie eine Rolle gespielt. Judenfeindliche Behauptungen dieser Zeit, wie die, dass die Juden ein „Handelsvolk“, „Schacherer“ oder „materiell eingestellt“ seien, dass sie körperliche Arbeit scheuten und „raffgierig“ Nicht-Juden „ausbeuteten“, haben sich im Bild des reichen, andere ausbeutenden Kapitalisten / Juden bis heute erhalten. Bis heute werden jüdische Kaufleute, Bankiers oder erfolgreiche Immobilienmakler nicht einfach als Leute betrachtet, deren Job darin besteht, gewinnbringend zu verkaufen. Man identifiziert sie als Juden und kritisiert sie als „jüdische Spekulanten“.

Juden als Verantwortliche für die Moderne, für politische Umbrüche und Liberalismus sowie als Intellektuelle

Mit der Abschaffung feudaler Privilegien sowie der Durchsetzung einer ökonomischen Struktur, in der sozialer Status nicht vererbt, sondern auch erworben werden konnte, wurden Juden zu politischen und sozialen MitspielerInnen auch außerhalb der jüdischen Gemeinden und einzelner Salons. Antijüdische Propaganda schlussfolgerte, dass Juden für die gesellschaftlichen Umbrüche verantwortlich seien, da sie von ihnen profitierten. Sie seien die treibende Kraft hinter der Modernisierung. So konnte man die Juden für alle mit der Durchsetzung der neuen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung einhergehenden Entwicklungen verantwortlich machen: für die Veränderung der traditionellen Familien-, Geschlechter- und Autoritätsbeziehungen, für die Verstädterung und Vereinzelung, die Infragestellung der überkommenen Moral und der bisherigen Werte und Normen, für freie Presse, neue Formen in Kunst und Kultur, für Liberalismus, Parlamentarismus, Pazifismus und Individualismus, für die „Ideen von 1789“. Aber ebenso standen sie in der antisemitischen Argumentation für radikale Kritik auch der neuen Gesellschaftsform: für Sozialismus und Bolschewismus. Solche Gegensätze und logischen Widersprüche in antisemitischen Stereotypen und Argumentationen sind häufig, sie stören das Funktionieren dieser Überzeugungen aber nicht, sondern werden als „Beleg“ für die allumfassende Macht und Täuschungsfähigkeit der Juden in die antisemitische Welterklärung eingebaut. Nebeneinander standen im 19. und 20. Jahrhundert die Bilder des intellektuellen Juden (z. B. des redegewandten Rechtsanwalts – des „Winkeladvokaten“) und des rückständigen, religiösen, patriarchalen, jiddisch-sprechenden Ostjuden. Auch wenn die historischen Veränderungen Ergebnis von Produktivkraftentwicklung und breiten gesellschaftlichen Reformbestrebungen sind, hält sich bis heute das Bild von Juden als Hintermännern, „Strippenziehern“, Profiteuren und Verantwortlichen für soziale Umbrüche.

National-völkischer Antisemitismus: Juden als Gegenbild zur Nation

Mit der späten deutschen Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert geht eine Verknüpfung antisemitischer und nationaler Diskurse einher. Die Vorstellung von einem „deutschen Volk“ geht auf die Zeit der antinapoleonischen „Befreiungskriege“ zwischen 1792 und 1815 zurück, in denen Frankreich die deutschen Kleinstaaten besiegt hatte und diese sich gegen Frankreich zu größeren Bündnissen zusammenschlossen. Der deutsche Begriff der Nation sollte der Idee der französischen Nation einerseits entsprechen und ihr zugleich widersprechen. Ein der französischen Revolution entsprechender Gründungsakt, der die Vorstellung des französischen „peuple“ (Volk im Sinne von: untere Bevölkerungsschichten) in Abgrenzung von den feudalen Herrschenden prägte, fehlte jedoch in Deutschland. Stattdessen verstand man das „deutsche Volk“ als naturgegebene Einheit ohne Klassen- oder Parteiunterschiede, die sich über ihre Abgrenzbarkeit von „Fremdem“ definierte. Während die Franzosen für diese Abgrenzung das äußere Feindbild abgaben, galten die Juden als innere Feinde. In den von Frankreich besetzten deutschen Staaten galt französisches Recht, nach dem Juden mit Nicht-Juden gleichgestellt waren – dies sollte unbedingt rückgängig gemacht werden. Damit wurde die Grundlage für die völkisch-rassistische Komponente des deutschen Begriffes von „Volk“ gelegt. Die Nation wurde als großer gemeinsamer „Volkskörper“ dargestellt und Juden wurden als bedrohliche „Fremdkörper in der Nation“ diffamiert. Vier Jahre nach den Kriegen gegen das napoleonische Frankreich gab es in vielen deutschen Staaten eine Welle judenfeindlicher Gewalttaten. Diese Agressionen beriefen sich auf die „Unverträglichkeit des deutschen Volkes mit den Juden“. „Jene Vorstellungen gipfelten im Nationalsozialismus in der Idee eines ‘Weltkampfes’ zwischen den Deutschen als auserwähltem Volk der ‘arischen Rasse’ mit der ‘Gegenrasse’ des ‘Weltjudentums’, in der Idee eines schicksalhaften Ringens um die Erfüllung eines göttlichen Auftrags, nämlich der Durchsetzung einer rassistischen Weltordnung unter deutscher Herrschaft“, analysiert Hanno Loewy. „In diesem Sinne wäre es tatsächlich erlaubt, vom Antisemitismus als einem ‘nationalen Projekt’, (weil alle Kernfragen der nationalen Selbstdefinition berührend) zu sprechen.“

Rassistischer Antisemitismus: Juden als andere und minderwertige Rasse

Zeitgleich mit dem Entstehen völkisch-nationalistischer Organisationen und imperialer Großmachtbestrebungen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert stoßen rassenbiologische Theorien auf verstärktes Interesse. So werden die Ideen des Biologen Charles Darwin (1809 – 1882) über den „Kampf ums Dasein“ zwischen „höheren“ und „niederen“ Rassen von vielen Anthropologen aufgegriffen. Ernst Haeckel schließlich übertrug die von Darwin nur auf den Bereich des Tierreichs bezogene Theorie des „survival of the fittest“, die besagt, dass nur der Stärkste und bestangepassteste überlebt, auf den Menschen. Der französische Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816 – 1882) knüpfte in seinen Schriften an die hierarchischen Rasseklassifikationen der Anthropologie an und erklärte die soziale Ungleichheit der Menschen als Ergebnis von „Rasseunterschieden“. Er beschwor einen „Kulturverfall“, den er als Ergebnis einer „Rassenmischung“ beschrieb, durch die die „arische weiße Rasse“ in ihrem reinen Blut bedroht sei. Unter Rückgriff auf diese Theorie schließlich entwickelte Houston Stewart Chamberlain seinen Ariermythos. Die „arischen Kulturträger“ befänden sich im historischen Endkampf mit dem Judentum, in dem es nur Sieg oder Vernichtung gäbe. Der zuvor religiös oder ökonomisch begründete Antisemitismus wurde so zur „Rassenfrage“ erklärt. Damit boten auch Übertritt zum Christentum oder Assimilation keinen Ausweg mehr; im Gegenteil: Sie galten den rassistischen AntisemitInnen als „Täuschungsversuch“.

Die nationalsozialistische Ideologie und Politik entwickelte diese Theorien konsequent weiter. Sexuelle Kontakte von „Ariern“ und Juden galten als „Blutschande“, Juden wurden als „zersetzende Elemente“ und als „niedere Rasse“ beschrieben. Rassistische Vorstellungen von „jüdischen“ Eigenschaften und Körpern (wie die Bilder von schwachen, unsoldatischen, drückebergerischen, hässlichen, gebückten, hakennasigen Juden) bestimmten die öffentliche Meinung. Jüdische Frauen wurden mit dem exotischen Bild der „schönen Jüdin“ beschrieben, jüdische Männer galten als lüstern und sexuell bedrohlich, jedoch gleichzeitig als impotent und unfruchtbar. Der Nationalsozialismus verband solche rassistischen Bedrohungsbilder wie das der Juden als „gefährlichste Gegner im weltgeschichtlichen Rassekampf“ mit antimodernen Impulsen und machte das Bild der „jüdischen Weltverschwörung“ und „Drahtzieher“ hinter dem modernen Weltgeschehen populär. Zahllose Variationen der „Protokolle der Weisen von Zion“, einer antisemitischen Fälschung, die dem russischen Geheimdienst zugeschrieben wird, fanden Verbreitung. Juden wurden verantwortlich gemacht für den als „amerikanisch“ denunzierten Kapitalismus („Wall Street“) und den „undeutschen“, sowjet-russischen Kommunismus („jüdischer Bolschewismus“). Im völkischen Antikapitalismus vereinen sich so die ökonomisch begründete Judenfeindschaft und der rassistische und völkische Antisemitismus.

Der nationalsozialistische Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen war die Konsequenz dieses antisemitischen Rassedenkens: der Versuch, sie „als Rasse“ zu vernichten.

Antisemitismus heute

Völkischer Antikapitalismus: Juden als Verantwortliche für Kapitalismus und seine sozialen Folgen

Die völkische Agitation gegen den Kapitalismus trennt in „raffendes“ Kapital, womit die Zirkulationssphäre, Börsen, Banken, freie Finanzmärkte etc. gemeint sind, und „schaffendes“ Kapital wie Produktion, Industrie, Handwerk, „ehrliche Arbeit“ etc. Das „raffende“ Kapital wird Juden zugeschrieben, das „schaffende“ Kapital den „Ariern“. Moderner formuliert spricht diese sich antikapitalistisch gebende Verschwörungstheorie von der besonderen Macht der Juden, die mit ihrem Geld weltweit die Politik und die Medien bestimmten. Oftmals verbinden sich auch heute antisemitische und antiamerikanische Motive: Von der „Wall Street“ und „Ostküste“ ist die Rede – und die Juden sind gemeint, weil die „amerikanisch-jüdische Lobby“ dort das Sagen habe. Auch die linkspopulistische Agitation gegen „Multis“, „Spekulanten“ oder „verantwortungslose Unternehmer“, die keine Arbeitsplätze im Land schaffen, sondern aus egoistischen Motiven unkontrolliert Kapital fließen lassen, spricht eine Sprache, die in die „bösen“ und „gute“ Kapitalisten unterteilt und beiden die gänzlich „guten Arbeiter“ gegenüberstellt. Diese Rhetorik macht Einzelne aufgrund ihres Charakters für Systemprobleme verantwortlich und ist damit schnell mit antisemitischen Konstruktionen kurzzuschließen, die darüber informieren, dass Arbeiter Deutsche und Kapitalisten Juden sind. Statt Konkurrenz und Egoismus als kapitalistische Systemprinzipien zu begreifen, werden Schuldige gesucht und das „Eigene“ – die Nation, der deutsche Arbeitsplätze schaffende Kapitalist, die produktive Arbeit, die Arbeiter, die Armen etc. – widerspruchsfrei als positiv gekennzeichnet.

Typisch für den modernen Antisemitismus ist seine verschwörungstheoretische Form. Sie ermöglicht die Trennung der Welt in Gut und Böse. Die Abschaffung des Bösen ist Programm. Weit verbreitet sind solche Verschwörungstheorien derzeit auch in islamistischen Bewegungen. Mit der Denunziation eines vermeintlichen jüdisch-amerikanischen Weltherrschaftsstrebens verbergen diese Strömungen ihren eigenen Herrschaftsanspruch, der die Ausführung oder Rechtfertigung terroristischer Angriffe meist einschließt.

Sekundärer Antisemitismus: Juden als Mahner an die Vergangenheit

Nach dem Holocaust wurde der Versuch, Schuldgefühle und Verantwortung abzuwehren, zu einem eigenständigen Motiv für antisemitische Konstruktionen. Es hat sich eine besondere Form des Antisemitismus herausgebildet, die sich nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz äußert. Diese Form wird als sekundärer Antisemitismus bezeichnet und ist Ausdruck von Erinnerungsabwehr und dem Willen, sich subjektiv und kollektiv von Scham und Verantwortung zu entlasten.

Auschwitz steht einer Identifikation mit der deutschen Nationalgeschichte sowie jeder Form des naiven Weltbezugs unwiederbringlich im Weg. Dass der Holocaust eine moderne deutsche Tat war, wirft schließlich auch die Frage auf, inwieweit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Nationalsozialismus möglich gemacht haben, bis heute fortdauern. Diese Frage aber und das daraus resultierende Unbehagen gegenüber der deutschen Nation werden von vielen nicht-jüdischen Deutschen mit verschiedenen Entschuldungsmustern abgewehrt. „Die Juden sind wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen.“ oder „Die Juden haben bestimmt selbst dazu beigetragen, dass sie so unbeliebt waren.“, heißt es dann. Neben dieser Argumentation, die die Opfer von Antisemitismus selbst für ihre Verfolgung verantwortlich macht, gibt es weitere Strategien der Täter-Opfer-Umkehr, z. B. die Relativierung der Verbrechen. Die eingehende Berichterstattung über die Bombardierung deutscher Städte und die Vertreibung sowie die Kriegsleiden der nicht-jüdischen Deutschen, die in der Regel die Familienerzählungen dominieren, dienen auch dazu, den eigenen Opferstatus zu betonen und andere als Verbrecher darzustellen. Die Schuld am Massenmord selbst dagegen wird auf eine kleine Minderheit um Adolf Hitler projiziert. Und auch der Vergleich anderer Ereignisse mit Auschwitz bzw. anderer Politiker mit Hitler dient meist der eigenen Verantwortungsminimierung.

Diejenigen, die durch ihre Aussagen oder durch ihre bloße Existenz an den Holocaust als deutsches Verbrechen erinnern, stehen dem Willen zu verdrängen im Weg und werden zu Störenfrieden. Insbesondere Juden gelten den Deutschen als „Mahner“ und „Rächer“. 1998 sprach der Schriftsteller Martin Walser bei der Friedenspreisverleihung des deutschen Buchhandels unter stehendem Applaus namhafter PolitikerInnen von der „Moralkeule Auschwitz“. Er beschuldigte die Juden, der „Instrumentalisierung unserer Schande für gegenwärtige Zwecke“ und forderte eine Rückkehr der Deutschen zur „Normalität“. Er beschuldigte die Juden „permanent an eine Periode deutscher Geschichte [zu] gemahnen, die viele gerne vergessen würden“ und forderte „einen Schlussstrich. Auch im Rahmen der öffentlichen Debatte um die Entschädigung der NS-ZwangsarbeiterInnen – die keineswegs alle Juden oder Jüdinnen waren – wurden Holocaustüberlebende als „empfindlich, rachsüchtig, nachtragend und unversöhnlich“ dargestellt und ihre juristischen Vertreter als „geldgierige Rechtsverdreher“, „Winkeladvokaten“ etc. bezeichnet. Viele dieser Bilder gehen auf die Vorstellung einer „alttestamentarischen Vergeltungssucht“ zurück, die aus dem Repertoire des Antijudaismus stammt und dem Bild eines „rachsüchtigen“ jüdischen Gottes das des christlichen Gottes der Liebe und Vergebung gegenüber stellt. Das Argument, Juden benutzten ihr Leiden unter der Verfolgung dazu, möglichst hohe Summen an Entschädigung zu kassieren, verbindet das Motiv der Schuldabwehr mit dem traditionellen Bild des „geldgierigen, betrügerischen und ausbeuterischen Juden" und der verschwörungstheoretischen Idee der besonderen Macht. So ist nach antisemitischer Ansicht der „jüdische Einfluss in der Welt“ dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“.

Philosemitismus: Juden als bessere Menschen

Philosemitismus ist eine Haltung, die Juden zu den besseren Menschen erklärt. Für ihn gilt, was auch für den „umgekehrten“ oder „positiven“ Rassismus gilt: Auch die Überhöhung als besonders intelligent, schön, mutig oder moralisch ist problematisch. Denn wie der Antisemitismus ignoriert der Philosemitismus den konkreten Menschen und konstruiert kollektive Eigenschaften und Verhaltensmuster für die Gesamtheit der Juden und Jüdinnen. Durch die Überfrachtung mit Projektionen werden Bilder geschaffen, die in der Realität enttäuscht werden müssen. Das findet seinen Ausdruck in Aussagen wie: „Gerade du als Jüdin müsstest doch verstehen …“

Antisemitischer Antiisraelismus: Israel als jüdisches Kollektivsubjekt

Bereits in den 80er Jahren entsteht eine weitere Form des Antisemitismus, die sich darüber rechtfertigt, selbst eine Schlussfolgerung aus dem Holocaust zu sein. Sie behauptet, aus einer besonderen deutschen Sensibilität und einer intensiven Auseinandersetzung mit Menschenrechten heraus Juden vor Rassismus warnen oder gar an der Realisation eines „Völkermordes an den Palästinensern“ hindern zu wollen. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf den Staat Israel. Dessen jüdische BewohnerInnen und alle außerhalb Israels lebenden Juden und Jüdinnen werden zu einem Kollektivsubjekt homogenisiert, das für die Politik Israels verantwortlich gemacht wird. Indem man Israel mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichsetzt, wird die deutsche historische Verantwortung für die Verfolgung der Juden verkleinert. Die Deutschen, „die aus ihrer Geschichte gelernt haben“, werten sich selbst zu den moralisch besseren Menschen auf – sie kennen sich aus mit Völkermord. Aber auch andere, auf christlich-antijudaistische oder moderne antisemitische -Traditionen zurückgreifende Bilder prägen die Nahost-Berichterstattung in Deutschland: Antisemitische Charakterisierungen von Sharon oder den Israelis, Anspielungen auf die biblische Geschichte und das Alte Testament zur Charakterisierung des Geschehens in Israel, eine extreme Personalisierung, Israel als kapitalistisch-imperialistischem Statthalter der USA, die Übernahme palästinensisch-völkischer Ideologien. Oft wird behauptet, das Verhalten „der Israelis“ rufe einen neuen Antisemitismus hervor. Es ist jedoch nicht das Geschehen im Nahen Osten, das den Antisemitismus verursacht, sondern es ist der Antisemitismus, der dem Nahostkonflikt eine bestimmte Interpretation auferlegt.

Ist Antisemitismus nicht dasselbe wie Rassismus?

Wie Rassismus ermöglicht Antisemitismus die Konstruktion von Fremdbildern, die als Kontrastfolie der Vorstellung davon, wer man selbst ist, erst Kontur verleihen. Dennoch unterscheiden sich moderne antisemitische Stereotype aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte deutlich von rassistischen. Rassistische Feindbilder entwerfen ihr Gegenüber als anders, minderwertig und potentiell bedrohlich. Antisemitismus dagegen konstruiert Bilder des Jüdischen als das ganz Andere und als überlegen und als tatsächliche Bedrohung durch eine feindliche Übermacht. Während mit Rassismus der sogenannten anderen „Rasse“ bzw. „Kultur“ Triebhaftigkeit und Naturwüchsigkeit zugeschrieben wird und die eigene „Rasse“ einen höheren Grad an Zivilisierung und Kultur erreicht haben soll, symbolisiert der „Jude“ die andere Seite der Zivilisation / Moderne. Das Gegenbild ist damit „absolut“, d. h. es ist keines von Andersartigkeit, sondern ein absoluter Widerspruch. „Der Jude“ steht für Kapital, abstrakte Herrschaft und künstliche Zivilisation, für hohe und hinterhältige Intelligenz und große Macht. Mit dieser Zuschreibung stellt Antisemitismus eine einfache Erklärung der kapitalistischen Gegenwart dar, die bereits Hinweise auf Lösungsvorschläge enthält. Wenn für die Probleme der Welt Einzelne persönlich verantwortlich gemacht werden können, liegt die Lösung in der Bekämpfung eben dieser Personen. Antisemitische Bilder ermöglichen so anders als rassistische Feindbilder eine umfassende Erklärung der Welt und ihrer Probleme. Während es bei Rassismus oft um ökonomische Ausbeutung und materielle Vorteilnahme geht, unterliegt Antisemitismus weniger ökonomischem Zweckdenken. Seine Vorteile liegen eher in psychologischen und sozialpsychologischen Funktionen und der Schuld-, Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr. Antisemitismus ist Teil einer autoritären Umgangsweise mit Unterdrückung: die Möglichkeit eines Lebens ohne ausbeuterische Arbeit und einer Identität, die nicht „national“ ist, wird auf „den Juden“ projiziert und verfolgt.

Was also erklärt den gegenwärtigen Antisemitismus?

Die hier beschriebene jahrhundertelange Tradition der Feindbilder müssen die, die sich ihrer bedienen, nicht einmal kennen. Geht man aber den Bildern auf den Grund, findet man den Schlüssel dafür, warum Antisemitismus mit so viel Leidenschaft geäußert wird und was diejenigen zu erklären suchen, die antisemitisch denken. Antisemitismus ist eine komplexe Mischung aus individuellen Vorurteilen, populistischen Instrumentalisierungen antisemitischer Stereotype und einem großen Bestand an sozial tradierten Feindbildern. Antisemitische Sichtweisen werden als normale Form der Weltdeutung erlernt.

Antisemitische Interpretationen erfüllen vor allem sozial-psychologische Funktionen. Es liegt im Wesen von Antisemitismus, dass er nicht unbedingt logisch und rational ist, da er psychischen Bedürfnissen folgt. Er ermöglicht, sich als wehrhaftes Opfer zu fühlen und aus dieser Position heraus „berechtigte“ Aggressionen zu äussern. Oftmals ist sogar der leidenschaftliche Zustand, in den sich Antisemiten selbst versetzen, das eigentliche Motiv. Der französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre bezeichnet Antisemitismus als eine „Leidenschaft“, die „in der Form einer theoretischen Aussage auftreten kann“, die kein rationales Argument und keine vorliegende Tatsache braucht.“ Deshalb kann er auch nicht einfach mit dem Verweis auf anders gelagerte „eigentliche“ Interessen, den mangelnden materiellen Nutzen oder die mangelnde Logik solchen Verhaltens korrigiert werden. „Existierte der Jude nicht“, so schreibt Jean-Paul Sartre in „Überlegungen zur Judenfrage“, „der Antisemit würde ihn erfinden“. Antisemitismus geht, so Sartre, als „eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt, … den Tatsachen voraus, die sie entstehen lassen müssten, sie sucht sie, um sich von ihnen zu nähren, sie muss sie sogar auf ihre Weise interpretieren, damit sie wirklich [für den Antisemiten] beleidigend werden.“

Übermächtige gesellschaftliche Verhältnisse werden in der Alltagswahrnehmung personalisierend nachgebildet, Unterwerfung wird verinnerlicht und Aggressionen herrschaftskonform kanalisiert: all dies ist Teil des von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer untersuchten „autoritären Charakters“, der mit Antisemitismus in der Regel einher geht. Aber komplexe Gesellschaften funktionieren so, dass diejenigen, die sich als sich „Opfer“ des Kapitalverhältnisses und der Gesellschaft sehen, zugleich daran mitwirken, dass diese aufrecht erhalten werden. Sie sind Objekt und Subjekt in einem. Antisemitismus hat so auch die Funktion, den eigenen Anteil an den Verhältnissen nicht wahrnehmen und nichts wirklich verändern zu müssen. Die eigene Unterwerfung und das Gefühl der Ohnmacht werden zur Quelle der Lust, indem man sie antisemitisch wendet.

Antisemitismus – Eine kurze Definition

Der Begriff Antisemitismus bezeichnet die Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen. Antisemitismus ist ein Verallgemeinerungsmechanismus, um Juden kollektiv negative Eigenschaften zuzuschreiben, oftmals verbunden mit konstruierten physischen oder moralischen Bewertungskriterien. Antisemitische Feindseligkeit ist nicht an die Gegenwart von jüdischen Menschen gebunden. Sie ist eine Form der Welterklärung, die Juden die Verantwortung für ökonomische und soziale Prozesse zuweist. Moderner Antisemitismus erklärt die Juden zur Bedrohung der Nation bzw. des nationalen Selbstbewusstseins und greift dabei auf die jahrhundertealte Tradition religiöser antijüdischer Feindbilder (Antijudaismus) zurück. Der Begriff „Antisemitismus“ wurde 1879 von Wilhelm Marr geprägt, der in seiner Hetzschrift „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“ den Bruch mit dem christlichen Antijudaismus forderte und den Antisemitismus „wissenschaftlich“ – über den Bezug auf eine jüdische „Rasse“ – zu begründen suchte. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff „Semitenfeindschaft“. Zu der „Rasse“ der Semiten rechnete man alle BewohnerInnen des Nahen Ostens, indem man von der sprachlichen Verwandtschaft des Arabischen und des Hebräischen auf eine biologisch-rassische Gemeinsamkeit schloss. Die antisemitische Feindschaft richtete sich aber ausschließlich gegen jüdische Menschen – unabhängig davon, ob sie Hebräisch sprachen und wo sie lebten. Neue Sprachverwirrer behaupten, Antisemitismus gäbe es gar nicht, denn Juden wären überhaupt keine Semiten, die Araber seien Semiten, und gegen die hätte man nichts. Araber könnten zudem als Semiten auch nicht antisemitisch sein. Dieser verblüffende Versuch, realen Antisemitismus durch das Wegdefinieren der Bezeichnung scheinbar zum Verschwinden zu bringen, macht Diskussionspartner oft erst mal sprachlos.

Übersicht
A
Idee, Hintergrund, Konzeption
B.1
Jetzt geht's los!
B.2
Erfahrungen
B.3
Gesellschaft begreifen
B.4
Tu was!
B.5
Wie die Zeit verging
B.6
Themenungebundene Methoden
C.1
Von Vor- und anderen Urteilen
C.2
Antisemitismus entgegentreten
C.3
Rassismus als gesell. Verhältnis
C.4
Rassismus und Sprache
C.5
Sicherheit und Gewalt
C.6
Rechte Bilderwelten
C.7
Nation und Nationalismus
C.8
Migration
C.9
Weltarbeit und Wirtschaftswelt
C.10
Diskriminierung
D
Literatur, Medien, Adressen
E
Register, Inhalt
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