Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit
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Thema: Antisemitismus
Antisemitismus entgegentreten Manchmal wäre es schön, man könnte die Welt in drei Sätzen erklären. Es wäre fast beruhigend in dieser Welt nur noch das Opfer übermächtiger Anderer zu sein, die für unsere Probleme und das Elend der Welt die Verantwortung trügen. Schließlich ist man ja Vielem tatsächlich ausgeliefert. Phantasien, die uns aus der Verantwortung für uns selbst und unsere Umwelt entlassen, florieren insbesondere um komplizierte und angstbesetzte Themen wie die „Globalisierung“ und um Ereignisse wie den 11. September. Solche einfachen Gut-Böse-Bilder ersparen uns das Nachdenken über unsere eigene Verstrickung in all die Dinge, die uns nicht gefallen, wie z.B. in Konkurrenz, Ungerechtigkeit und in eine kapitalistische Weltwirtschaftsordnung. Solche einfachen Theorien, die oft an Analysen nicht einmal interessiert sind, sondern nur daran, die eigenen Aggressionen loszuwerden, haben zur Zeit Konjunktur. Viele von ihnen sind Verschwörungstheorien. Sie werden von einer ganzen Reihe historisch tradierter Feindbilder illustriert. Sehr oft sind es Bilder von Juden. So sagt zum Beispiel ein Teilnehmer unserer Seminare: „Wir“ als abhängig Beschäftigte müssen gegen die „Unternehmer und die internationalen Multis“ kämpfen, denn sie haben „ein laues Leben“, während „wir richtig arbeiten“. Und dann erklärt er, hinter den Multis steckten vermutlich „einflussreiche jüdische Kreise“. Ähnlich wie diese Seminarerfahrung sehen auch die Ergebnisse von Meinungsumfragen aus: 32 % der Deutschen meinen, Juden hätten zu viel Einfluss in der Wirtschaft. 21 % halten Juden für Menschen, die ihre Interessen mit anrüchigen Methoden umsetzen. Auch die Rede davon, dass „einmal Schluss sein muss“ gehört zu den Aussagen, die wir auf Seminaren hören. Wer das sagt, meint, dass er von Nationalsozialismus, Verantwortung und Entschädigung nichts mehr hören will und, dass man Deutschland und den Deutschen „nicht immer eine Sonderrolle in der Welt“ zuschreiben solle. Gemeinsam ist den Verschwörungstheorien und den Schlussstrichreden ein strategischer Opferdiskurs. Mit ihm versetzt sich ein Angreifer in eine moralisch gerechtfertigte Position. Denn er verteidigt sich ja nur, oder er verteidigt, wie im Falle von „Man wird ja wohl noch sagen dürfen …“, die freie Meinungsäußerung. Der ehemalige FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann nutzte diesen Trick zu Wahlkampfzwecken und fand damit breite Zustimmung. Möllemann hatte sich als Herausforderer eines Tabus inszeniert, das gar nicht existierte. Er hatte gesagt, man dürfe Israel und Juden in Deutschland nicht kritisieren. Möllemann gab sich als Opfer von Zensur, um dann um so lauter zu sagen, an was die Juden alles schuld seien: an Antisemitismus, an der Unterdrückung der Palästinenser und der Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland. Möllemann setzte sich damit nicht nur über die Tatsache hinweg, dass die Medienberichterstattung zur selben Zeit voll von Kritik an Israel war, sondern er versuchte auch, mit der Selbstinszenierung als Opfer die antisemitischen Inhalte und die Motivation seiner Kritik unangreifbar zu machen. Seine Fürsprecher gewann er vor allem dadurch, dass er an bekannte Feind- und Opferbilder appellierte. Ähnliche Opferkonstruktionen erleben wir in unseren Seminaren. In den aktuellen Diskussionen zum Nahost-Konflikt erleben wir, dass sich viele unserer TeilnehmerInnen mit den Palästinensern identifizieren, ohne Näheres über den Konflikt zu wissen. Diese für die Einzelnen nicht aufwändige Solidarität ermöglicht es, zugleich eigene aus ganz anderen Gründen resultierende Opfergefühle zu artikulieren, „solidarisch“ Gutes zu tun und mit eigenen Gefühlen von geschichtlicher Schuld oder offenen (familien-) biografischen Fragen umzugehen. Antisemitismus ist ebenso wie andere Feindbilder auf den ersten Blick sehr irrational. Dennoch hat Antisemitismus seine eigene Rationalität und seinen eigenen Nutzen. Dieser Nutzen liegt bei Antisemitismus noch viel weniger als bei anderen Feindbildern in materiellen Vorteilen. Es geht dabei vor allem um individuelle Aufwertung, die Suche nach Sündenböcken, Verantwortungsabgabe und Welterklärungen.Gefählich ist das vor allem, weil es nicht allein Neonazis sind, die so denken, sondern allzu oft auch Globalisierungsgegner, Friedensbewegte und antirassistisch Aktive („Wir sind alle Palästinenser“). Lange Zeit glaubte man, die Auseinandersetzung mit Antisemitismus werde in der antirassistischen Bildungsarbeit und in der historischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus „miterledigt“. Angesichts der eigenständigen Geschichte, Form und Virulenz antisemitischer Feindbilder erkennen jedoch mehr und mehr BildungsarbeiterInnen heute die Notwenigkeit, sich mit dem Thema Antisemitismus eigenständig auseinander zu setzen. Mit diesem Kapitel möchten wir angesichts des eklatanten Mangels an Bildungskonzepten gegen Antisemitismus einige Ansätze vorlegen, wie in der Bildungsarbeit eine Sensibilisierung gegen Antisemitismus aussehen kann und wünschen uns eine lebhafte Debatte darum. Zur Dynamik:
Wir sind schuldig; wir werden zu Unrecht beschuldigt; bei dem, was die (die Israelis) machen, kann ich mich nicht mehr mit Antisemitismus beschäftigen; Verschwörungstheorien; wir sollen zahlen; ich kenne keine Juden (keine direkten Kontakte); zeitliche Distanz; wenig Informationen / Unkenntnis; Angst etwas falsch zu machen; offener Antisemitismus; Erschrecken vor dem Ausmaß des Leids; Gleichsetzung Juden = Holocaust; Solidarität mit den Palästinensern, oft als moralisch unangreifbares antirassistisches Argument geäußert, „moralischer Antisemitismus“; Solidarität mit den Juden als Opfern, aber wehe sie sind keine; Intifadasolidarität; Philosemitismus; Identitätsfragen, wann ist man Jude?; doppelte Betroffenheit von Rassismus und Antisemitismus, z.B. für Juden aus Russland in der BRD; Auseinandersetzung mit Geschichte; Beschäftigung mit Antisemitismus; Antizionismus; Antiamerikanismus; Antiimperialismus; eigene Opfergefühle; unbearbeitete Geschichte; unkontrollierte undurchschaubare Psychodynamik; verschiedene Generationen mit unterschiedlichen generationsgebundenen „normalen Vergangenheitsdiskursen“; Menschen mit unterschiedlicher Geschichte; …
Ziele
Was & wie? Inhalte und MethodenViele TeamerInnen sind unsicher, wie sie mit der Dynamik umgehen sollen, die im Seminar entsteht, wenn über Antisemitismus gesprochen wird. Tatsächlich sind oft gleich mehrere Dinge im Raum, wenn über Nationalsozialismus und Antisemitismus gesprochen wird (siehe Kasten). Die wichtigste Voraussetzung für einen souveränen Umgang mit dieser Dynamik ist die Reflektion über eigene Standpunkte und Ziele und das Interesse die Standpunkte der anderen nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer Motivation zu ergründen. Auf jeden Fall solltet ihr der Auseinandersetzung mit Antisemitismus Zeit einräumen. Das Team sollte jedoch nur so viele Aspekte ansprechen, wie auch im Seminar bearbeitet werden können. Dennoch gilt selbstverständlich, dass wir antisemitischen Äußerungen im Seminar ebenso widersprechen, wie rassistischen (siehe auch: KONZEPT – Reaktionsmöglichkeiten. A, Seite 21 ). Zum Einlesen und als Unterstützung für TeamerInnen empfehlen wir: Ein Arbeitspapier über die Dimensionen von Antisemitismus für TeamerInnen und TeilnehmerInnen: Erfahrungen und Biografien. Wir schlagen vor, Erfahrungen mit Antisemitismus und jüdische Perspektiven auf Antisemitismus zum Thema zu machen. Dabei zahlt es sich aus, wenn die Seminargruppe bereits in der Orientierungsphase intensiv an eigenen Erfahrungen gearbeitet und sich mit unterschiedlichen Sichtweisen beschäftigt hat (siehe dazu KAPITEL B.2, ERFAHRUNGEN ).
Interessierte TeilnehmerInnen können in ihrer eigenen Biografie recherchieren: In besonders interessierte Gruppen und MultiplikatorInnen können zunächst in Zweiergruppen unter der Fragestellung „Wann habt ihr was über Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg erfahren?“ eigene Lernbiografien erstellt werden. Eine Biografierecherche kann auch mit der Frage „Welche Bilder von Juden sind mir in verschiedenen biografischen Etappen begegnet? Welche persönlichen Begegnungen hatte ich?“ gemacht werden. Hinweise zu dieser Methode findet ihr in METHODE – Mit Biographien arbeiten. B.6, Seite 141 .
Antisemitische Bilder und Feindbilder sind keine individuellen Vorurteile, sondern haben eine lange und oftmals gewalttätige Geschichte. Diese Geschichte können wir exemplarisch verfolgen. Dafür betrachten wir einzelne antisemitische Bilder eingehender:
Antisemitische Bilder haben oft eine hohe Dynamik. Wir wollen reflektieren, wie sie funktioniert und warum. Ein Grund ist ihre extreme Schwarz-Weißmalerei und die Personalisierung von Herrschaft, die die Welt vereinfacht und wie geschaffen dafür ist, sich selbst als Opfer wahrzunehmen.
Antisemitische (Feind-)Bilder. Antisemitismus ist eine komplexe Mischung aus individuellen Vorurteilen, bisweilen willfährigen Instrumentalisierungen und einem großen Bestand an sozial tradierten Wissens- und Erfahrungsbeständen (Feindbilder). Der Rückgriff auf antisemitische Interpretationen und Feindbilder wird den Menschen nahegelegt. Diese Feindbilder haben zum Teil eine jahrhundertelange Tradition, die die, die sie benutzen, nicht einmal kennen müssen. Die Geschichte und den Nutzen von Feindbildern wollen wir im Seminar reflektieren. Wir schlagen vor, antisemitische Feindbilder und Verschwörungstheorien nicht unmittelbar zu bearbeiten. Antisemitismus ist eine Ideologie, die sich selbst über die Revolte gegen eine angebliche Übermacht legitimiert. Das diesem Denken zugrunde liegende selbstvergewissernde Opfergefühl und die Lust am Feindbild (siehe auch PLANUNGSHILFE – Von Vor- und anderen Urteilen. C.1, Seite 147 ) haben eine vermutlich noch größere sozialpsychologische Dynamik als Rassismus. Schon das Aufrufen dieser Bilder setzt sie in Wert und setzt Dynamiken in Gang, die auch bei kritischen Auseinandersetzungen als Nebeneffekt mitproduziert werden. Der potentielle Gewinn einer Analyse sollte diese Nebeneffekte immer überwiegen. Deshalb schlagen wir vor, in einem ersten Schritt Feindbilder und Verschwörungstheorien zu bearbeiten, die keinen antisemitischen Kern haben, um deren Struktur, Funktion und Nutzen zu analysieren. Erst in einem zweiten Schritt sollen dann mit diesem Vorwissen antisemitische Bilder betrachtet werden. In jedem Fall raten wir davon ab, antisemitische Feindbilder in großer Menge aufzulisten, damit nicht mehr (re-) produziert als analysiert wird. Sekundärer Antisemitismus. Eine Funktion des Antisemitismus ist die Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr in Bezug auf die NS-Verbrechen. So äußern sich antisemitische Einstellungen oftmals in Schlussstrichforderungen und der beharrlichen Weigerung, die Perspektive derer, die antisemitischen Angriffen ausgesetzt waren und sind, anzuerkennen. Wir meinen, dass Gedenkstättenbesuche kein „pädagogisches Allheilmittel“ in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus sind. Wir halten es dagegen für wichtiger, im eigenen Alltag Fragen zu stellen: Wie hat meine Berufsgruppe im Nationalsozialismus mitgemacht, wie konnte der Judenhass in meinem Stadtviertel populär werden, warum sagen meine Großeltern, sie haben „von allem“ nichts gewusst, warum benehmen sich meine Lehrer so nervös, wenn sie „Jude“ sagen, warum berichtet meine Tageszeitung so einseitig über den Nah-Ost-Konflikt, was hat dieser Konflikt mit unserer Geschichte zu tun und wie wird heute über diese Geschichte debattiert?
Nahost-Debatte. In der Diskussion um den Nahost-Konflikt begegnen uns viele geschichtsrelativierende und verfälschende Aussagen, so z.B. die Täter-Opfer-Umkehrung. Begrifflichkeiten aus der nationalsozialistischen Geschichte werden auf Juden und Israel übertragen. Dazu gehören „selektive Kollektivstrafe“, „Vernichtungskrieg“ und der Vergleich israelischer Politiker mit Hitler. Eine Studie des American Jewish Commitee stellte im Jahr 2003 fest, dass die deutsche Israel-Berichterstattung dominant negativ geprägt ist und, dass aktuelle Zuschreibungen gegenüber Israel und den Israelis abwertende Anspielungen auf biblische Zitate oder antijudaische Bilder enthalten.
Verkürzte Kapitalismuskritik. Positiv gesehen drücken Verschwörungstheorien das Interesse aus, mehr über das Funktionieren der Welt zu erfahren. Negativ gesehen sind sie der offensive Verzicht auf eine der Realität angemessene Analyse, um eine bereits bestehende eigene Weltsicht zu bestätigen. Wir erachten es als wichtig, problematischen Analysen mit der Erarbeitung fundierterer Analysen im Seminar zu begegnen. Wir wollen außerdem dafür sensibilisieren, wo in ökonomischen Analysen Anschlussflächen an verkürzte Welterklärungen und Antisemitismus bestehen. Besonders beschäftigen wir uns mit der Personalisierung gesellschaftlicher Prozesse, der Gegenüberstellung von Arbeit und Nichtarbeit („raffendes“ vs. „schaffendes“ Kapital) und dem Stereotyp des reichen übermächtigen Juden.
Handlungsmöglichkeiten. Abschließend schlagen wir vor, Handlungsmöglichkeiten gegen Antisemitismus zu diskutieren.
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Download: C2-Antisemitismus.pdf |